Der Wind bringt den Tod
Sache mit der armen Kirsten.« Sie streckte Smolski die Fotos entgegen. »Die hat mein Mann gemacht. Sie stammen alle aus der Zeit, als wir erfahren haben, dass Kirsten vermisst wird.«
Smolski ging zu ihr hinüber. »Und?«
Jule folgte ihm. Etwas an Evas verhaltenem Ton war ihr unheimlich.
»Mir ist es erst viel später aufgefallen, beim Einsortieren der Bilder. Da hieß es doch schon überall, Kirsten wäre nach Japan oder China abgehauen. Deswegen habe ich mir nicht viel dabei gedacht. Aber jetzt …«
Smolski sah die Fotos durch. Jule schaute ihm über die Schulter.
»Sehen Sie ihn?«, fragte Eva. »Er ist auf jedem Bild. Beim Schützenumzug. Beim Osterfeuer. Beim Tanz in den Mai. Er steht immer in der Nähe der Küvers. Der Mann mit den kurz geschorenen Haaren und dem schwarzen Hemd.«
»Wer?« Smolski ging die Bilder noch einmal durch und runzelte die Stirn.
Jule erstarrte. Ihre Blicke hingen wie gebannt an den Aufnahmen. Sie wusste jetzt, wen Eva meinte. Sie konnte sich unmöglich täuschen. Jule wankte einen Schritt zurück. Sie kannte den Mann im schwarzen Hemd. Sehr gut sogar. Oder besser gesagt, er kannte sie. Sie hatte ihm in langen Sitzungen in seiner Praxis ihr gesamtes Innenleben offenbart. Es war ihr Therapeut Lothar Seger.
79
»Das war gute Arbeit eben.« Frank Wessler lobte nur selten, und Stefan Hoogens stellte fest, dass ihn die kleine Streicheleinheit des Staatsanwalts freute.
»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass dieser eine Typ mich echt gefragt hat, ob wir die Spurensicherung auch zum angeblichen Opferstein bei Odisworth geschickt haben.« Er studierte missmutig einen Plastikaufsteller mit den Mittagstischangeboten. »Was für ein Vollidiot.«
Sie saßen im Restaurant, das sich im Souterrain des Kieler Landgerichtsgebäudes befand, weil Wessler ihn nach der verhältnismäßig gesittet verlaufenen Pressekonferenz noch auf einen Kaffee hatte einladen wollen.
Wessler nahm seine randlose Brille ab und wischte sich über die Augen. »Aber wir dürfen uns nichts vormachen.«
Hoogens kannte den fordernden Unterton in Wesslers Stimme. Er wappnete sich innerlich dagegen, gleich etwas ganz anderes als Lob zu hören.
»Ich meine, wir haben selbstredend unsere Erfolge«, hob der Staatsanwalt zu einem kurzen Monolog an. »Wir haben die Tote aus dem Wald identifiziert, und wir haben einige recht überzeugende Indizien, die unseren Mörder mit mindestens einem weiteren Leichenfund in Verbindung bringen. Es war auch die richtige Entscheidung, heute noch nichts über diese vermisste Odiswortherin herauszugeben. Doch das hilft uns bei unserem Problem nur sehr bedingt.« Wessler setzte seine Brille wieder auf. »Da haben eben nicht nur Vollidioten vor uns gesessen. Da sind mehr als genug Leute dabei, die eins und eins zusammenzählen können. Denen ist klar, dass es unter Umständen nicht bei zwei Opfern bleiben wird. Dass da noch mehr kommt. Wissen Sie, worauf ich hinauswill?«
»Logisch«, seufzte Hoogens. »Wir stehen unter Zeitdruck. Sobald der Erste was von einem Serienmörder schreibt, stürzen sich die anderen wie die Aasgeier darauf. Die geben erst wieder Ruhe, wenn wir jemanden verhaften und als Täter präsentieren können.«
»Korrekt.« Wessler sah aus dem Fenster hinaus auf die Straße. Er hatte die verbitterte Miene eines Mannes, der sich fragte, in was für einer Welt er eigentlich lebte und warum er sich ausgerechnet seinen Beruf als Staatsanwalt ausgesucht hatte. Seine langen Finger spielten mit einem leeren Portionspäckchen Milch auf seiner Untertasse. »Wir brauchen Ergebnisse. Und zwar am besten gestern. Haben Sie jemanden, den wir medienwirksam verhaften können?«
Hoogens sog Luft durch die Zähne. »Wir haben einen Verdächtigen, aber es wäre eine riskante Nummer, ihn festzunehmen. Wenn wir falschliegen und ihn wieder laufen lassen müssen …« Er zuckte mit den Schultern. »Dann sind wir plötzlich die Vollidioten.«
»Sprechen Sie das trotzdem mal mit Smolski durch, ja?«, erwiderte Wessler.
»Werde ich machen. Aber eines sage ich Ihnen: Es wird ihm nicht schmecken. Es wird ihm gar nicht schmecken.«
80
Jules Gedanken rasten. Das war Seger auf diesen Fotos. Was machte ihr Therapeut in Odisworth? Noch dazu kurz nach Kirsten Küvers Verschwinden? Dass er den Ort kannte, wusste Jule von seinem Anruf letztes Wochenende, als er sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen hatte. Er hatte versucht, sie vor jemandem zu warnen. Dabei hatte er anfangs
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