Der Wind bringt den Tod
den von ihr gewünschten Ort geführt. Es war Viertel nach sieben. Obwohl die versammelten Dörfler bereits auf sie warteten und Eile geboten war, hatte sie die letzten Minuten damit verbracht, ihr Gesicht im Rückspiegel zu studieren. Die Frau, die ihr teilnahmslos aus blauen Augen entgegenstarrte, sah aus wie eine lebende Tote. Auf ihrer kalkweißen Haut stachen die großen dunklen Ringe unter den Augen besonders auffällig hervor. Aus dem locker geknoteten Dutt, den Jule mit zwei schwarzen Stäbchen fixiert hatte, waren Dutzende dünner Strähnen herausgerutscht, die ihren Kopf umflorten wie ein zerzauster Schleier. Sie gab eine durch und durch ramponierte Erscheinung ab.
Was war da eben passiert? Sie war gern bereit, alles – die unheimliche dunkle Gestalt auf dem Waldweg, die Aussetzer des Radios und des Navis, das Klopfen auf dem Kofferraum, das mit einem Mal geschlossene Scheunentor – ihrer psychischen Belastung wegen der erzwungenen Autofahrt zuzuschreiben. Dennoch blieben letzte Zweifel an dieser Erklärung. Natürlich. Wer gestand sich schon gern ein, dass er Hirngespinste hatte?
Das Smartphone in der Innentasche ihres Mantels brummte hartnäckig, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie einen Termin hatte. Sie holte das kleine Gerät hervor, schaltete es ab und steckte es wieder weg. Als sie notdürftig ihre Frisur richtete, fiel ihr die Ironie ihrer Lage auf: Vor nicht einmal drei Stunden hatte es sie alles an Überwindung gekostet, was sie hatte aufbringen können, um in dieses Auto zu steigen. Und jetzt würde sie am liebsten darin sitzen bleiben und das Treffen mit den Odisworthern ignorieren. Das war allerdings auch keine Lösung. Außerdem würde es ihr helfen, die Vorfälle im Wald zu vergessen, wenn sie wieder unter Leute kam.
Sie nahm ihre Laptoptasche und stieg aus. Kühle Abendluft umfing sie. Hier auf dem Land waren die Temperaturen noch nicht so angenehm wie in der Stadt. Sie schlug den Mantelkragen hoch und stapfte los, vorbei an den anderen Wagen: robuste Modelle mit Anhängerkupplungen und schlammverspritzten Kotflügeln.
Jedes Klacken ihrer Absätze auf dem Parkplatzpflaster, jeder Schritt, der sie dem Eingang der Schule näher brachte, gab Jule ein Stück ihres alten Selbstvertrauens zurück. Dort drinnen, jenseits der gläsernen Flügeltür, gab es nichts, wovor sie sich fürchten musste, es war vertrautes Terrain für sie: das Zusammenspiel aus klaren Argumenten und subtiler Einflussnahme.
Der Auslöser ihrer Panikattacke, die sich zu regelrechtem Verfolgungswahn gesteigert hatte, lag buchstäblich hinter ihr. Für die kommenden Stunden konnte sie den Wagen getrost vergessen.
In der Schule wiesen ihr primitive weiße DIN-A4-Blätter mit dicken Richtungspfeilen den Weg zum Veranstaltungsraum – der Sporthalle. Sie sehnte sich augenblicklich nach Hamburg zurück, wo wichtige Firmentermine grundsätzlich in den Konferenzsälen der besten Hotels an der Binnenalster stattfanden. In Odisworth maß man solchem Luxus wie dunklen Teppichböden, gepolsterten Stühlen und einen angenehmen Ausblick keinerlei Wert bei. Die Linien eines Basketballfelds auf dem PVC-Boden wurden von zwei großen Sitzblöcken aus Plastikklappstühlen verdeckt. Unter dem Korb am einen Ende der Halle schenkte eine mollige Frau mittleren Alters Bier in Pappbechern aus, wofür ein Sprungkasten als Theke herhielt.
Die Anwesenden teilten sich in zwei große Gruppen auf: Die einen nutzten die Wartezeit für einen Schluck Pils und ein Schwätzchen im Stehen. Die anderen harrten mit versteinerten Mienen auf ihren Plätzen aus und guckten Löcher in die Luft. Beide hatten eines gemeinsam: Der Anlass war ihnen wichtig genug, dass sie sich in Schale geworfen hatten. Die Herren trugen größtenteils Jacketts von der Stange oder etwas zu straff um die Bäuche spannende Pullover, die Damen biedere Synthetikblusen, oft kombiniert mit zu engen Stoffhosen und Steppwesten. Das kühle Neonlicht und die schwache Schweißnote, die in Sporthallen nun mal in der Luft lag, taten ihr Übriges, eine schonungslos provinzielle Atmosphäre zu schaffen.
Jule schritt den Gang zwischen den beiden Sitzblöcken hinunter, auf die Tischreihe zu, an der die Dorfgranden saßen. Auf dem Namenskärtchen am einzigen freien Platz stand »Andreas Bertram«. Der untersetzte Mann ganz rechts stand auf und strich sich fahrig durch das silbergraue Haar. Der Hund zu seinen Füßen – ein struppiger Mischling von der Größe eines
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