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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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war, ragte Gebälk in den Nachthimmel, und dort, wo das Scheinwerferlicht auf die Wand fiel, gab es breite Rußflecken. Die angrenzende Scheune war von dem Brand, der im Haupthaus gewütet hatte, verschont geblieben. Durch das offene Tor zeichneten sich schemenhaft die Umrisse von riesigen Landmaschinen und der Frontpartie eines Autos ab. Vor dem Haupthaus rostete ein Ungetüm vor sich hin, das erst auf den zweiten Blick als Traktor zu erkennen war, weil die Reifen fehlten. Ein Stück weiter hing an einem Baum mit ausladender Krone eine Schaukel, die nur noch von einem statt von zwei Seilen an dem Ast gehalten wurde.
    »Sie haben Ihren Bestimmungsort erreicht«, wiederholte das Navi.
    »Och, komm schon!«, maulte Jule. Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Das war doch nie im Leben Odisworth. Vielleicht brachte es etwas, wenn Jule das Ziel noch einmal eingab. Fehlanzeige. Alles Drehen am Bedienknopf führte zu nichts. Das Display blieb eingefroren, und als das Navi zum dritten Mal herunterspulte, »Sie haben Ihren Bestimmungsort erreicht«, blaffte Jule ein »Hab ich nicht« zurück.
    Sie schaute auf die Uhr. Fünf vor sieben. Sie würde zu spät kommen. Schlimmer noch: Je länger sie hier stand, desto größer wurde die Gefahr, dass der Mann aus dem Wald sie einholte – wenn er ihr denn auf den Fersen war. Sie musste unbedingt weiter.
    Das Gehöft machte nicht den Eindruck, als wäre es noch bewohnt. Hier gab es niemanden, den sie nach dem Weg fragen konnte. Sie hatte genügend Horrorfilme gesehen, um das als Glück im Unglück zu empfinden. Die Maschinen in der Scheune mit ihren Spitzen, Haken und Dornen waren alles andere als vertrauenerweckend.
    Sie schnallte sich ab, riss das Handschuhfach auf und wühlte darin nach einer Straßenkarte. Eine aus der Verzweiflung geborene Idee. Als ob so ein Waldweg und ein abgebrannter Bauernhof im Nirgendwo im besten Atlas der Welt verzeichnet gewesen wären. Trotzdem schaltete sie die Deckenleuchte an und blätterte in dem blauen ADAC-Standardwerk. Nach einigem Suchen entdeckte sie Odisworth als eines von vielen gelben Pünktchen inmitten einem wahren See von Hellgrün. Toll. Jetzt wusste sie immerhin, dass sie nicht mehr wusste, wo sie überhaupt war.
    Als es aus Richtung des Kofferraums klopfte, erschrak sie so heftig, dass ihr der Atlas vom Schoß rutschte. Sie drehte sich um. Nichts. Keine dunkle Gestalt. Nur der Waldrand. Das Tuckern des Motors im Leerlauf klang wie ein spöttisches Brummeln. Sie schaute wieder nach vorn, zum Gehöft. Als sie erkannte, was sich verändert hatte, gefror ihr das Blut in den Adern.

14
     
    Die Veränderung in der Szenerie war mit nichts zu vergleichen, was Jule aus einem Geisterfilm kannte. Das Gehöft war nicht urplötzlich in einen früheren, weniger baufälligen Zustand versetzt. Die Spuren des Brands – das halb eingestürzte Dach, die Rußflecken an den Wänden – waren nicht fortgewischt. Es tanzten auch keine unheimlichen Lichter in den dunklen Fenstern.
    Die Schaukel am Baum neben dem Haupthaus hing nach wie vor nur an einem Seil, und es saß weder ein bleichhäutiges Kind, das Jule aus großen Augen anstarrte, noch irgendeine andere Erscheinung darauf.
    Da war auch keine finstere Gestalt, die unvermittelt im Lichtkreis der Scheinwerfer stand.
    Die Veränderung war so subtil wie zutiefst beunruhigend: Das Scheunentor, das eben noch weit offen gestanden hatte, war jetzt geschlossen.
    Und doch war das mehr, als Jule ertragen konnte. Sie war nicht allein hier. Jemand war ganz in der Nähe. Jemand, der auf ihren Kofferraumdeckel geklopft hatte, jemand, dem sie im Wald begegnet war, jemand, der ihr Angst einjagen wollte, weil sie ihn um ein Haar umgebracht hatte. Und vielleicht wollte dieser Mensch auch noch mehr, als Jule nur eine kleine Lektion zu erteilen.
    Sie musste hier weg. Mechanisch schob sie den ersten Gang rein, kurbelte das Steuer nach rechts und fuhr mit quietschenden Reifen los.
    »Ihre Route wird neu berechnet«, sagte das Navi, als wäre nichts geschehen.

15
     
    Die Grund- und Hauptschule Odisworth lag als flacher Betonklotz aus den Siebzigerjahren am Dorfrand. Aus buntem Papier ausgeschnittene Tiere, die innen an den Fensterscheiben klebten, erschienen wie Zeugnisse gescheiterter Fluchtversuche kindlicher Fantasie aus einem düsteren Kerker.
    Jule parkte ganz hinten in der letzten Reihe. Nach ihrer überstürzten Flucht war sie den neuen Anweisungen des Navis gefolgt, und dieses Mal hatte es sie tatsächlich an

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