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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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in Odisworth.
    Sie betrachtete das Ergebnis ihrer Bemühungen im Spiegel. Zum ersten Mal seit Tagen war sie sich wieder vollkommen sicher, wer sie war: Jule Schwarz, erfolgreiche Geschäftsfrau, die sich durch nichts aus der Bahn werfen ließ. Nicht von Serienmördern, nicht von deren Opfern, und schon gar nicht von irgendwelchen Hinterwäldlern, die ihr Dorf am liebsten auf dem Entwicklungsstand des späten neunzehnten Jahrhunderts eingefroren hätten. Diese Jule Schwarz war eine Frau, die harte Entscheidungen treffen konnte und hocherhobenen Hauptes aus jeder noch so verzwickten Situation hervorging.
    Zurück im Schlafzimmer schlüpfte sie in ihre so sorgsam ausgewählte Kombination. Die passenden Schuhe waren leicht gefunden: ein Paar robuste, flache Mer du Sud in schwarzem Leder. Beim Auflegen ihres neuen Parfüms erinnerte sie sich an den Mann, der ihr beim Kauf beratend zur Seite gestanden hatte. Jule kam eine Idee, wie sie ihren Anspruch an sich selbst, heute stolz und selbstbewusst zu agieren, noch stärker untermauern konnte. Sie empfand es nicht einmal als störend, wie ihr Herz pochte, als sie Rolfs Nummer wählte.
    »Hallo?« Er meldete sich leise. Wie beim letzten Mal schien er etwas außer Atem zu sein.
    »Hallo, Rolf. Hier ist Jule. Ich hoffe, ich störe nicht allzu sehr.«
    »Tust du nicht«, sagte er hastig. »Tust du nie.«
    Sie lächelte. »Ich schulde dir noch ein Date. Bist du heute Abend zufällig in Odisworth?«
    »Nein, leider nicht.« Er klang zerknirscht. »Ich vertröste dich nur ungern, aber ich habe da was, was ich wirklich unmöglich verschieben kann.«
    Wahrscheinlich war es unfair von ihr, ein Spötteln in ihrer Stimme zuzulassen, aber sie war zu pikiert, um es zu unterbinden. »Dann gehe ich also recht in der Annahme, dass dir eine deiner Reparaturen wichtiger ist, als mich wiederzusehen?«
    »Nein, es ist etwas anderes.«
    Entweder er war gegen ihre Ironie unempfindlich oder er versuchte, sich ernsthaft zu rechtfertigen. Jule kannte ihn noch nicht gut genug, um darüber ein zuverlässiges Urteil zu treffen. »Aha. Etwas anderes.«
    »Wie ist es mit morgen?«, schlug er eilig vor. »Ich melde mich bei dir, ja?«
    »Ja, mal sehen. Es könnte natürlich sein, dass ich morgen etwas vorhabe, das sich nicht verschieben lässt.« Sie schmunzelte und fügte noch schnell ein »Bis dann« hinzu, bevor sie auflegte. Sie streckte sich zufrieden. Sie war sicher, die erste Schlacht des heutigen Tages für sich entschieden zu haben. Sie war in der Stimmung für Veränderungen. Sie zog Matzes Ring – diese ständige Erinnerung an ihre vermeintliche Unfähigkeit, sich ganz für einen anderen Menschen zu öffnen – endlich von ihrem Finger und warf ihn in der Küche in den Mülleimer unter der Spüle.

139
     
    Dass das Navi dieses Mal sofort Odisworth als Zielort vorgab, löste in Jule einen Moment heiterer Gelöstheit aus. Sie musste an den alten Sinnspruch von der kaputten Uhr denken, die trotzdem zweimal am Tag die korrekte Zeit anzeigte. Auf der Fahrt stellte Jule erleichtert fest, dass ihre Angst sich nach wie vor geschlagen gab. Trotzdem – und ungeachtet ihres umfangreichen Rituals zur Wappnung gegen den anstehenden Termin – fühlte sie eine leichte Anspannung in sich. Sie war mit der plötzlich aufkommenden Unruhe zu vergleichen, die man verspürte, wenn man sich panisch fragte, ob man auch die Kaffeemaschine abgeschaltet oder die Fenster geschlossen hatte, bevor man aus dem Haus gegangen war. Oder mit dem Gefühl, wenn einem der Geburtstag eines guten Freundes eine Woche zu spät einfiel. Es war die bohrende Ahnung, irgendetwas Wichtiges vergessen oder übersehen zu haben.
    Auf der Ausfahrt von der A7 erkannte Jule, woher diese Furcht rührte. Sie hatte nichts mit der Sitzung mit dem Gemeinderat zu tun. Dieses Treffen war letztlich unnötig und bedeutungslos. Sie hing auch nicht direkt mit den Morden zusammen. Natürlich stand Jule der schier unbegreiflichen Tatsache, dass Andreas Bertram – ein Mensch, den sie über Jahre hinweg fast jeden Tag gesehen und den sie gut zu kennen geglaubt hatte – dazu fähig gewesen war, Frauen brutal zu quälen und umzubringen, völlig fassungslos gegenüber. Aber auch das war es nicht.
    Die Furcht hatte einen anderen Ursprung: die Ungewissheit darüber, ob sie heute Abend bei Caro Trost finden würde, wenn sie nach ihrem Feldzug nach Hamburg zurückkehrte, um ihre Wunden zu lecken.

140
     
    Jule machte nur einen Schritt durch die Tür des

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