Der Wind bringt den Tod
wie mich finden.«
»Sagt er das, oder sagen Sie das?«
»Es ist wirklich so.«
»Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, dass er Sie nur benutzt?«
»Und wenn? Ist es allein seine Schuld, dass ich mich von ihm benutzen lasse?«
Lothar Seger zog die Schultern zusammen, als hätte ihm jemand in den Nacken geschlagen. »Diese Unterhaltung haben Kirsten und ich weiß Gott wie viele Male geführt. Ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, wie hartnäckig ich sein kann. Irgendwann hat sie erkannt, dass ich mit meiner Einschätzung richtig liege. Dann ging alles ziemlich schnell: Sie hat ihm die Chance eingeräumt, sich zu ändern, ihr mehr Freiheiten einzuräumen und mehr Rücksicht für ihre Bedürfnisse zu zeigen. Das hat er nicht geschafft, und sie hat ihn verlassen. Es ist ihr beileibe nicht leichtgefallen, aber sie hat es getan. Anschließend wollte sie eine Auszeit nehmen. Ein halbes Jahr weg von allem – weg von ihrem Job, von Deutschland, von den Erinnerungen an ihn.«
»Ich weiß«, sagte Jule traurig. »Sie wollte als Rucksacktouristin nach Asien.«
»Das hat ihm natürlich gar nicht geschmeckt.« Seger nickte, und seine Hand zitterte, als er die dritte Sounddatei startete.
»Er ruft mich andauernd an. Auf dem Handy. Zu Hause. Er schreibt mir Unmengen E-Mails. SMS. Er will mich sehen. Nur zum Reden.«
»Es spielt keine Rolle mehr, was er will. Denken Sie an sich. Haben Sie ihm denn noch irgendetwas zu sagen, das Sie unbedingt loswerden müssen?«
»Ja, schon.«
»Wie würden Sie seine Versuche der Wiederaufnahme eines Kontakts mit Ihnen beschreiben? Ist er da in irgendeiner Weise ausfällig geworden, oder hat er versucht, Druck auf Sie auszuüben?«
»Am Anfang hat er mich angebettelt, ich soll zu ihm zurückkommen. Er würde noch einmal alles geben, um so zu werden, wie ich es mir von ihm wünsche. Und er hat gemeint, ich dürfte nicht so weit weggehen. Das würde ihn umbringen.«
»Er hat also zunächst seine alte Strategie verfolgt. Sind Sie schwach geworden? Haben Sie ihm irgendwelche Versprechungen gemacht?«
»Nein. Nein, habe ich nicht. Ehrlich nicht. Es ist besser für uns beide, wenn wir Abstand zueinander halten. Das habe ich jetzt wirklich kapiert.«
»Sie sagten eben, er hätte anfangs gebettelt. Was kam dann?«
»Dann muss er langsam auch verstanden haben, wie ernst es mir mit allem ist. Die letzten paar Tage wirkte er sehr … gefasst.«
»Resigniert?«
»Ja, genau. Resigniert. Er meint, er würde sich nur richtig von mir verabschieden wollen. Dann sei es leichter für ihn, mich gehen zu lassen.«
»Glauben Sie ihm das?«
»Nein. Ja. Ich möchte es ihm glauben.«
»Aber Sie wollen ihn trotzdem sehen?«
»Das bin ich ihm schuldig.«
»Falsch. Sie sind ihm überhaupt nichts schuldig. Sie sind niemandem etwas schuldig. Nur sich selbst. Aber wenn Sie ihn sehen wollen, wenn es Ihnen wirklich wichtig ist, dann treffen Sie sich mit ihm. Schaffen Sie klare Verhältnisse. Machen Sie sich frei von ihm. Sonst finden Sie nirgendwo Ruhe.«
Die Aufzeichnung endete.
»Das ist von ihrem letzten Termin bei mir.« Seger war aufgestanden. Er hatte sich von Jule abgewandt, um aus dem Fenster hinaus in die Finsternis zu starren. »Danach habe ich sie nie wieder gesehen.«
Jule blickte unverwandt auf das Diktiergerät, das ihr Segers dunkelstes und schmerzvollstes Geheimnis enthüllt hatte. »Sie geben sich die Schuld an ihrem Tod.«
»Und wie könnte ich das nicht?« Er breitete die Arme aus, stützte sich am Fensterrahmen ab und presste die gesenkte Stirn gegen die Scheibe. »Ich habe sie buchstäblich ihrem Mörder in die Arme geschickt …« Seine Stimme brach. »Ich wäre jetzt gern allein.«
Jule stand auf. In der Tür blieb sie stehen. Sie brachte es nicht übers Herz, ihn ohne jede Hoffnung zurückzulassen. Sie drehte sich um und sagte mit aller Überzeugungskraft, die sie aufbieten konnte: »Es war Kirstens Entscheidung, nicht Ihre. Genau deshalb ist sie doch zu Ihnen gekommen: um zu lernen, wie sie eigene Entscheidungen trifft. Und falls es Ihnen hilft: Ihr Versprechen ist wahr geworden.«
Sie hörte ihn schwer atmen.
»Als ich das letzte Mal hier war«, fuhr sie fort, »haben Sie mir gesagt, dass ich bei unserem Wiedersehen den unumstößlichen Beweis für Ihre These haben würde. Sie hatten völlig recht damit. Meine Angst gehört zu mir, aber ich bin nicht meine Angst. Endlich begreife ich auch, was das wirklich bedeutet. Und vielleicht können Sie jetzt mir glauben, wenn
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