Der Wind bringt den Tod
Besprechungszimmers im Odisworther Rathaus und wusste sofort, dass ihre Tage als Projektleiterin gezählt waren. Das einzige Mitglied des Gemeinderates, das sich eingefunden hatte, war Mangels. Der Bürgermeister hatte die Ellenbogen auf einen Leitzordner gestützt, der vor ihm auf dem Tisch lag. Neben Mangels saß eine Jule unbekannte Frau mit einer unvorteilhaften Kurzhaarfrisur und einem verkniffenen Gesicht. Hatte er eine Anwältin eingeladen, um etwaige Streitpunkte zu klären?
»Ah, guten Tag, Frau Schwarz«, begrüßte sie Mangels fröhlich, ohne sich von seinem Platz zu erheben.
»Herr Mangels«, erwiderte Jule kühl und setzte sich. Sie hatte keine Ahnung, woher er seine gute Laune nahm. Ein paranoider Gedanke zuckte durch Jules Kopf: Hatte der Bürgermeister ihr die ganze Zeit über einen gewaltigen Bären aufgebunden? War es möglich, dass er insgeheim gar nicht zu den Befürwortern des Windparks zählte und er und einige seiner Bauernfreunde nur bei einem ihrer Dorffeste auf die Idee gekommen waren, ein Unternehmen aus der großen Stadt mal so richtig vorzuführen? Mangels’ einäugiger Hund kam unter dem Tisch winselnd auf Jule zugekrochen. Sie streckte ihm abwesend ihre Hand entgegen und kraulte das Tier am Hals.
»Frau Schwarz, es wird Sie sicher ungemein freuen, davon zu erfahren, dass der Realisierung unseres gemeinsamen Projekts nicht mehr das Geringste im Wege steht.«
Jule war zu perplex, um auf diese Ansage zu reagieren. Eine Aura des Unwirklichen schien sich über den gesamten Raum auszubreiten. Wenn die nasse, kalte Schnauze des Hundes sich nicht drängend in ihre Handfläche geschmiegt hätte, wäre sie der Überzeugung gewesen, sie träumte die ganze Szene nur.
»Ich muss jedoch zugeben«, fuhr Mangels in einem gespielt rügenden Ton fort, »dass ich ein bisschen enttäuscht darüber bin, wie wenig Vertrauen Sie in mich gesetzt haben. Sie hätten mir gegenüber schon andeuten können, dass Sie Herrn Schwillmer eingeschaltet haben, um die Prozesse hier vor Ort zu beschleunigen. Ich hatte vorgestern Abend ein wirklich … interessantes Telefonat mit ihm. Er hat eine sehr direkte Art, finden Sie nicht?«
»Doch«, gab Jule tonlos zurück. Was passierte hier? Derart überrumpelt zu werden, war beinahe schlimmer als das Scheitern des Projekts, von dem sie bis eben noch fest ausgegangen war.
»Jedenfalls bin ich gestern und heute nicht untätig geblieben, wie Sie sehen.« Er klopfte auf den Deckel des Aktenordners. »Ich war so frei, eine Absichtserklärung aufzusetzen, die ich einigen Leuten vorgelegt habe. Und was soll ich sagen? Die wirtschaftliche Vernunft hat sich endlich durchgesetzt.«
Nun stand Mangels doch noch auf. Er kam langsam um den Tisch herumgelaufen, um dann den Ordner vor ihr so bedächtig und geradezu ehrfurchtsvoll aufzuschlagen, als handelte es sich dabei um das Goldene Buch des Dorfes. »Bitte sehr.«
»Danke«, murmelte Jule. Sie blätterte durch den Ordner. Ihre Augen weiteten sich. Die Absichtserklärung, die Mangels seinen Nachbarn vorgelegt hatte, war nur eine Seite lang und etwas holprig formuliert. Sie entdeckte unter den Unterschriften lauter Namen, die ihr aus ihrer Excel-Liste mit den für das Projekt relevanten Grundstückseignern vertraut waren. Es waren sogar viele Namen darunter, die sie in ihrer Liste rot unterlegt hatte, weil diese Personen ihr klare Absagen erteilt hatten, als sie persönlich mit ihnen in Kontakt getreten war. Sie wusste nicht, ob alle Landbesitzer die Absichtserklärung unterzeichnet hatten. Es waren aber in jedem Fall mehr als genug, um binnen kürzester Zeit genügend Druck auf die verbleibenden Verweigerer aufzubauen. Es war nicht ihr erstes Projekt dieser Art. Sie hatte eine klare Vorstellung davon, was als Nächstes geschehen würde. Es war im Grunde wie beim Holzfällen: Man musste nie den ganzen Stamm durchschlagen. Sobald man erst einmal genügend Kraft aufgewendet hatte, um sich bis zur Mitte vorzuarbeiten, knickte er unweigerlich ein.
»Wie haben Sie das geschafft?«, fragte Jule halb beeindruckt, halb ungläubig.
»Indem ich meine hohle Birne eingesetzt habe.« Mangels, der inzwischen an die Seite der schweigenden Frau mit dem kurzen Haar zurückgekehrt war, tippte sich an die Schläfe und reckte stolz die Brust. »Man sagt doch, dass alles etwas Gutes hätte, nicht wahr? Nun, das gilt auch für diese grauenhaften Morde, die unsere kleine Gemeinde so schwer erschüttert haben und wegen der unser Dorf plötzlich in
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