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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sich um eine Niederlage betrogen fühlte.

141
     
    »Und nun zu etwas weniger Erfreulichem«, kündigte Mangels an. Er wandte sich an die Frau, die bisher noch keinen Ton von sich gegeben hatte. »Ich denke, Sie können ihn jetzt holen, Frau Plate.«
    Plate? War das die Mutter des Jungen, den Jule beinahe überfahren hatte? Warum war sie hier? Um Jule irgendwelche Vorwürfe zu machen? Nein, das ergab keinen Sinn.
    Gespannt beobachtete Jule, wie die Frau eiligen Schrittes den Raum verließ.
    »Was soll das?«, fragte sie Mangels.
    Er grinste schelmisch. »Warten Sie’s nur ab.«
    Jonas musste in einem Nebenzimmer gewartet haben, denn im nächsten Augenblick betraten er und seine Mutter bereits wieder den Raum. Er machte ein Gesicht wie ein zum Tode Verurteilter und wich Jules neugierigen Blicken aus.
    »Mein Sohn hat Ihnen etwas zu sagen.« Birgit Plates Stimme erinnerte Jule an das Geräusch eines Nagels, der über Beton kratzte. »Na los.« Sie hieb dem Jungen den Ellenbogen in die Seite. Seine beachtliche Größe und ihre Schmächtigkeit verliehen der Szene etwas Komisches.
    »Entschuldigung, Frau Schwarz.« Jonas starrte auf seine Turnschuhe. Seine nächsten Sätze trug er vor wie ein schlecht auswendig gelerntes Gedicht. »Es tut mir leid, dass ich Sie so schlimm beschimpft habe. Es tut mir leid, dass ich Ihnen die Puppe ins Auto gelegt und einen Drohbrief geschrieben habe.«
    Jule lachte auf, weil die Situation dermaßen absurd war. War es denkbar, dass sie sich zu keiner Zeit wirklich in Gefahr befunden hatte? Dass sie gar nicht ins Visier von Andreas geraten war? Dass sie nicht mehr als das Opfer eines fiesen Streichs eines schlecht erzogenen Bengels geworden war? »Das kann nicht sein.«
    Birgit Plate fühlte sich durch das Lachen offenbar in ihrer Ehre als Mutter gekränkt. Sie ging zu ihrem Stuhl, nahm die Handtasche, die sie über die Lehne gehängt hatte, und klappte sie auf. »Das habe ich unter seinem Bett gefunden.« Sie meinte eine nackte Barbiepuppe, der Kopf und Brüste fehlten. Nadeln zwangen die Puppe dazu, ihre Beine auf ewig gespreizt zu halten. »Da waren noch drei von den Dingern.« Sie schleuderte die Puppe auf den Tisch und herrschte ihren Sohn zornig an: »Herrgott, Jonas, was ist nur los mit dir?«
    »Das sind nicht meine«, beteuerte Jonas trotzig und riss den Kopf nach oben. »Ich hab die bloß gefunden. Ich hab die nicht mal alle mitgenommen. Und das mit den Nadeln war ich nicht. Denkst du, ich bin pervers?«
    »Junger Mann«, setzte seine Mutter zu einer Standpauke an.
    »Moment«, ging Jule dazwischen. Eiskalte Finger schienen ihren Nacken zu streicheln. Das Pochen ihres Herzens war dieses Mal weitaus weniger angenehm als heute Morgen vor ihrem Anruf bei Rolf. »Moment.«
    Jonas schaute sie an. Sie sah Tränen der Wut und der Verzweiflung in seinen Augen glitzern.
    »Kannst du mir zeigen, wo du sie gefunden hast?«
    Der Junge nickte stumm.

142
     
    Fünf Minuten später saß Jule mit Jonas in ihrem Auto und fuhr die Odisworther Hauptstraße hinunter. Er hatte die Chance, ihr zu beweisen, dass er die Wahrheit sagte, sofort ergriffen. Jule verstand ihn. Er war in einem Alter, in dem es für ihn wahrscheinlich unerträglich entwürdigend war, dass seine Mutter dachte, es würde ihn anmachen, Puppen zu massakrieren. Jule nutzte die Gelegenheit, ihm eine Frage zu stellen, die sie nach dem Vorfall mit der Puppe beschäftigt hatte. »Wie bist du eigentlich in mein Auto gekommen? Hast du es aufgeknackt?«
    »Nein.« Er schüttelte den Kopf, als könnte er kein Wässerchen trüben. »Es war offen. Ehrlich. Ich habe mich voll gewundert, dass es nicht zu war. Echt jetzt. Ich wollte Ihnen die Puppe und den Brief erst unter den Scheibenwischer klemmen, aber als ich gesehen habe, dass das Auto offen ist …«
    Jule runzelte die Stirn. Das hörte sich nach einem ehrlichen Geständnis an. Als sie so darüber nachdachte, fiel ihr ein, dass die Zentralverriegelung ihres Wagens möglicherweise genauso spann wie das Navi. Und an jenem Abend in Hamburg hatte das Gewitter doch auch plötzlich ohne jeden Grund die Alarmanlage ausgelöst. »Scheißelektronik«, wiederholte sie murmelnd Rolfs Kommentar zu diesen Fehlfunktionen.
    »Es war wirklich dumm von mir«, sagte Jonas. »Und es hat ja nicht mal so geklappt, wie ich mir das vorgestellt hatte. Ich meine …« Er zögerte. »Sie haben nicht mal richtig Angst gekriegt. Sie sind einfach nur wütend geworden,

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