Der Wind bringt den Tod
völlig Unbelebtes verhält – etwas, das sich in jeder erdenklichen Hinsicht seinem Willen unterwirft und ihn durch sein eigenes Handeln dennoch ergänzt, erfreut und aus einem Gefängnis der Einsamkeit befreit.«
Bumm.
Da! Da war es wieder! Das Klopfen! Dieses Mal hatte Jule es ganz deutlich gehört. Es kam aus dem hinteren Teil des Wagens. Sie bremste abrupt auf achtzig ab. Es hupte laut hinter ihr, und sie sah aus den Augenwinkeln etwas auf der linken Spur auf sie zurasen. Der LKW zog so dicht an ihr vorbei, dass zwischen ihren Außenspiegel und seinen Vorderreifen kein Blatt Papier mehr gepasst hätte. Im tosenden Rauschen des Lasters ging das Klopfen einen Augenblick unter. Dann kehrte es zurück – noch lauter als vorher.
Bumm. Bumm.
»Bitte, bitte, bitte«, bettelte Jule und spürte, wie sich ihr Magen zu einem Klumpen verkrampfte. Der Wagen durfte auf keinen Fall den Geist aufgeben. Das wäre so furchtbar ungerecht gewesen: Sie war doch eigens so früh aufgestanden, um ihre schlimmste Panik auszutricksen und um unter keinen Umständen den Termin mit dem Gemeinderat zu verpassen, auf den sie bei Mangels so gedrängt hatte. Ihre alte Angst vermischte sich mit einer neuen – der Furcht, vollkommen zu versagen. Schockiert stellte sie fest, wie sich ihre Arme mit einem Mal ganz leicht anzufühlen begannen. Das Gefühl breitete sich binnen Sekundenbruchteilen auf ihren Brustkorb aus, und sie meinte, mit jedem gepressten Atemzug weiter an Gewicht zu verlieren. Der Mann im Radio redete unbeirrt weiter, und sie wagte es nicht, ihre schweißnassen Finger auch nur die wenigen Zentimeter vom Lenkrad zu bewegen, um ihn zum Verstummen zu bringen.
»Um noch einmal auf die Fetischisierung zurückzukommen –«
»Halt doch bitte die Klappe!«
Bumm. Bumm. Bumm.
Nun büßten auch ihre Beine an Gewicht ein, und es kostete sie einiges an Anstrengung, die Füße auf den Pedalen zu halten. Die Fahrbahn vor ihr verengte sich Stück für Stück. Sowohl der Standstreifen als auch die Überholspur wurden Zentimeter für Zentimeter aus ihrem Sichtfeld gelöscht, als hörte alles um sie herum auf, zu existieren. Sie war in einer Welt gefangen, die immer kleiner wurde.
»Es ist der gleiche Impuls, der manche Menschen dazu treibt, sich zu unbelebten Gegenständen hingezogen zu fühlen. In früherer Zeit häufig zu Statuen, in unseren Tagen immer häufiger auch zu täuschend lebensechten Puppen. Diese generelle Neigung wird sicherlich noch dadurch verstärkt, dass wir spätestens seit Mitte des letzten Jahrhunderts beobachten können, wie eine gesamtgesellschaftliche Normierung von Schönheitsidealen auch und gerade schon an die Jüngsten vermittelt wird, und zwar eben auch in Form von Puppen. Puppen, die keine Kinder mehr abbilden, sondern Erwachsene. Wie die berühmte Barbie etwa.«
Bumm. Bumm. Bumm.
Das Klopfen wollte nicht aufhören, und Jule war drauf und dran, die Kontrolle über sich zu verlieren. Sie murmelte ihr Mantra und wurde durch ein fernes Schild am Straßenrand belohnt, das ihr wegen ihrer verengten Sicht winzig vorkam. Es kündigte die Ausfahrt zu einem Rastplatz in fünfhundert Metern an. Sie lenkte den Wagen schon jetzt auf den Standstreifen und rammte dabei fast die Leitplanke.
»Diese akzeptierte Form der Agalmatophilie – so der Fachterminus – hat mittlerweile bedenkliche Ausmaße angenommen. Die Psychiatrie kennt das sogenannte Barbie-Syndrom, bei dem die betroffenen Frauen bereit sind, sich radikalen Operationen zu unterziehen, um ihr Körperbild an das der Puppe anzupassen. Mehr noch: Man weiß auch von einer nicht zu unterschätzenden Zahl von Männern, die ihre Partnerinnen dazu antreiben, Veränderungen an sich vornehmen zu lassen, um einem gewissen Schönheitsideal zu entsprechen.«
Gleichzeitig mit ihrem Erreichen der Ausfahrt endete der Beitrag des Experten. Jule biss sich auf die Lippen und nutzte den Schmerz, um endlich wieder zu sich zu kommen. Sie zerrte ihren Oberkörper näher an das Lenkrad heran und zwang sich, beide Beine voll durchzudrücken. Einer ihrer Füße rutschte vom Pedal, doch zum Glück war es die Kupplung und nicht die Bremse. Als der Wagen endlich spürbar langsamer wurde, erstarb auch das unheimliche Klopfen. »Gott sei Dank«, flüsterte sie.
An freien Parkplätzen herrschte so früh keinerlei Mangel. Sie ließ den Wagen quer über drei Lücken ausrollen. Sie wählte eine einfache Methode, die ihr Seger am Anfang ihrer Therapie mühsam beigebracht hatte, um
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