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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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»Warum kannst du mir denn nicht einfach sagen, was los ist?«
    »Weil es dabei nicht um dich, sondern um mich geht«, erwiderte er. »Ich weiß sehr zu schätzen, dass du mir gegenüber so fürsorglich bist, doch in diesem Punkt richtet das mehr Schaden an, als dass es einem von uns beiden nutzt. Du willst dich um mich kümmern. Du willst, dass es mir gut geht. Fein. Dann lass dir gesagt sein, dass es mir am besten geht, wenn du deine Neugier ein einziges Mal im Zaum hältst. Versuch nicht immer, eine Verschmelzung mit mir anzustreben. Caro, wir sind doch keine Teenies mehr. Ich bin ich, und du bist du. Wenn du nicht damit leben kannst, dass manche meiner Gedanken mir ganz allein gehören, hat das mit uns keine Zukunft und du wirst mich verlieren. Willst du das?«
    Caro gab ihm die einzige Antwort, die sie ihm darauf geben konnte.

39
     
    Kurz vor fünf Uhr morgens waren die Straßen Hamburgs noch ruhig, und nichts wies darauf hin, dass sich bald endlose Kolonnen von Fahrzeugen Stoßstange an Stoßstange über sie hinwegwälzen würden. Genau die richtige Zeit für Jule, um die nächste Fahrt in jenes Dorf zu unternehmen, das Andreas bei seinem Anruf so bizarr porträtiert hatte. Nur zweimal sprach sie ihr Mantra gegen die Angst, bevor sie auf dem Parkplatz im Schanzenviertel den Motor startete.
    Das Gespräch mit Andreas ging ihr nicht aus dem Kopf, und die Erkenntnis war beruhigend, dass sie nicht die einzige Person in ihrer Firma war, die allem Anschein nach irgendwann in der Vergangenheit ein Trauma erlitten hatte. Auch andere trugen also Masken, und sie war stolz darauf, dass sie die Risse unter ihrer offenbar besser zu verbergen wusste als manch anderer.
    Der Teil der Strecke, den sie über die A7 zu bewältigen hatte, wurde ihr durch einen Beitrag auf ihrem neuen Lieblingssender erträglich gemacht. Hamburg mochte in den letzten Jahren einiges an kulturellen Errungenschaften eingebüßt haben, aber für ein neues Musical war in der Hansestadt immer Platz, und um ein solches drehte sich auch die Sendung. Es handelte sich laut Sprecherin um eine »mutige Neuinterpretation« von ›My Fair Lady‹: Ein in Blankenese ansässiger Linguistikprofessor unternahm darin den ehrgeizigen Versuch, eine türkischstämmige Schulverweigerin aus dem Problemviertel Billstedt so nach seinen Wünschen und Vorstellungen zu formen, dass er sie bei seinen Freunden und Bekannten vom Anglo-German Club als seine Nichte ausgeben konnte, ohne dass der Schwindel aufflog. Inhaltlich standen da zwar übelste Sozialromantik und peinlichste Scherze am Rand des rassistischen Klamauks zu befürchten, doch der Sender war schlau genug gewesen, sich einen Experten einzuladen, der sehr angenehm über die psychologische Grundidee des Stücks referierte.
    »Man darf nie vergessen, dass in dieser Konstellation auch stets eine Fetischisierung verhandelt wird.« Man merkte, dass der Mann gern und oft vor großem Publikum sprach, denn seine Worte waren wie ein ruhiger warmer Strom, auf dem man seine eigenen Gedanken treiben lassen konnte. »Hier wird ein uraltes Motiv verarbeitet, das die Menschen bereits in der Antike beschäftigt hat: die Verquickung von Schaffensdrang und Leidenschaft, von Kreativität und erotischem Begehren. Ein per se schwächerer, unterlegener Mensch – in diesem Fall eine junge Frau – wird von einem anderen Menschen – einem reifen Herrn – gleichsam zum formbaren Material erniedrigt, mithilfe dessen einer Wunschvorstellung Gestalt verliehen werden soll.«
    Bumm.
    Jule hörte von irgendwo hinter sich ein dumpfes Klopfen. Sofort fasste sie das Lenkrad fester. Hatte sie etwas auf der Fahrbahn übersehen – ein totes Tier, eine Radkappe – und war einfach darüber hinweggerollt? Sie wartete ab, ob sich das Geräusch wiederholte, doch da war nur das sanfte gleichmäßige Brummen des Motors. Sie versuchte, sich zu entspannen, und lauschte wieder den Worten aus dem Radio.
    »Warum spreche ich nun in diesem Zusammenhang von einer unterschwelligen Fetischisierung? Ich tue dies, weil der Konflikt in dieser Neuinterpretation ebenso wie in ihrer Vorlage aus dem Umstand erwächst, dass das zu formende Subjekt zum großen Bedauern des Formenden über einen eigenen Willen verfügt. Deshalb kann es – trotz aller noch so großen Anstrengungen – niemals ganz den ihm angetragenen Vorstellungen genügen. Was der Formende sich wirklich wünscht, ist letzten Endes ein Paradoxon: ein lebendiges Geschöpf, das sich wie etwas

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