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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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ihre Panik zu lindern: Sie schloss die Augen, versetzte sich in Gedanken an einen Ort, an dem sie sich sicher und geborgen fühlte – wie immer war das ihr Bett –, und zählte stumm langsam bis hundert. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie sie mit jeder Zahl einen Bruchteil ihres Gewichts zurückgewann. Es klappte. Bei fünfundzwanzig kamen ihr ihre Hände schwer genug vor, um sie vom Lenkrad zu lösen und den Motor auszuschalten. Es klappte. Bei vierzig war die nötige Kraft in ihre Arme zurückgekehrt, um die Handbremse anzuziehen. Es klappte. Bei sechzig konnte sie wieder freier atmen, bei siebzig kehrte die eben noch ausgelöscht geglaubte Welt um sie herum wieder in ihr Sichtfeld zurück. Es klappte. Bei hundert blieb von ihrem verstörenden Gefühl der Auflösung ins Nichts nur ein elektrisierendes Kribbeln auf ihrer Schädeldecke.
    Jule zählte noch einmal bis hundert. Dann stieg sie aus und sog gierig die kalte Morgenluft in ihre Lungen. Dieses verdammte Klopfen! Sie stützte sich auf dem Dach ab und stakste auf wackligen Knien zum Heck des Wagens. Sie ging vorsichtig in die Hocke, um unter das Auto zu spähen. In ihrem Kopf war sie darauf vorbereitet, irgendein klobiges Bauteil herabhängen zu sehen. Nichts. Zumindest nichts, was ihr auf den ersten Blick ungewöhnlich vorgekommen wäre, aber sie hatte auch nur eine grobe Vorstellung davon, wie ein Auto von unten auszusehen hatte.
    Sie wollte nicht daran glauben, dass sie eine echte Panne hatte. Sie versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, von woher das Klopfen genau gekommen war. Von irgendwo hinter ihr. Hinter ihr und von unten. Vielleicht tatsächlich aus dem Kofferraum? Sie stemmte sich in die Höhe. Sie öffnete die Klappe mit zitternden Fingern. Wieder wallte ihr der eklige Schweißgeruch entgegen. Sie ignorierte den Gestank und suchte im erstaunlich grellen Licht der kleinen Leuchten nach einem verdächtigen Gegenstand. Den fand sie zwar nicht, aber sie entdeckte etwas anderes: tiefe Kratzer in der Rückwand des Kofferraums, an deren Rändern sich der Kunststoff zu kleinen Spiralen aufgerollt hatte. So, als wäre jemand mit einem Schraubenzieher oder einem Messer darübergefahren. Was hatte Andreas alles mit diesem Auto angestellt? Erst der Gestank, jetzt diese Kratzer. Ihr fiel ein, dass der Boden des Kofferraums bei vielen Autos ja nur eine Art Einlage war, unter der in einer Aussparung noch der Ersatzreifen verstaut war. Sie brauchte eine Ewigkeit, um die Verschlüsse, die die veloursbespannte Einlage fixierten, zu lösen und sie anzuheben. Sie hatte sich nicht geirrt. Da war der Ersatzreifen. Und obendrauf lag ein Radkreuz, das verrutscht war. Sie nahm es und schlug sachte damit von unten gegen die Einlage. Erleichterung machte sich in ihr breit. Ja, das konnte es gewesen sein. Um ganz sicherzugehen, klopfte sie noch zwei, drei Male etwas fester. Es war nicht genau das Geräusch, das sie vorhin gehört hatte, aber da hatte sie ja auch vorn im Innenraum des Wagens auf dem Fahrersitz gesessen. Sie verstaute das Radkreuz, lachte auf und setzte sich einen Moment auf den Rand des Kofferraums. Sie hatte Glück im Unglück gehabt. Auch wenn sie das Klopfen des Radkreuzes schwer erschüttert hatte, war sie froh darüber, dass mit dem Auto alles in Ordnung war.
    »Andreas, Andreas«, schalt sie ihren Kollegen. »Nicht einmal ein Radkreuz ordentlich verstauen kannst du.« Sie stand auf, schloss den Kofferraum und tätschelte sanft das Heck des Wagens, als wäre er ein ausgesprochen fügsames Pferd, das sie geduldig auf seinem Rücken trug. Dann straffte sie die Schultern und stieg wieder ein. Als sie bemerkte, dass die Büsche am Rand des Rastplatzes sich immer deutlicher aus dem Licht der einsetzenden Dämmerung hervorzuschälen begannen – schwarze, an Kontur gewinnende Schemen vor einem düsteren Blau –, ließ sie den Motor an. Sie hatte einen Termin, und den würde sie einhalten.
    Im Radio rasselte ein Nachrichtensprecher eine Reihe bedenklich schlechter Wirtschaftsdaten herunter. Sie drehte das Gerät leiser, bis die Stimme des Sprechers nur noch ein schwaches Murmeln war. Sie wollte nichts über Krisen hören, da sie selbst eben erst eine überwunden hatte. Sie schaute in den Seitenspiegel, blinkte und fuhr los.
    Erst auf dem Beschleunigungsstreifen fiel ihr siedend heiß ein, dass sie vergessen hatte, ihr kleines Mantra gegen die Angst aufzusagen.

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    Ulf Grüners Büro war ein enges Kabuff im Keller eines schäbigen Klinkerbaus, dem

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