Der Wind bringt den Tod
sogar darüber nachgedacht, sich einsperren zu lassen. Aber was dann? Sie würden über ihn lachen, so wie sie früher über ihn gelacht hatten. Alle. Alle würden sie lachen. Und er würde wieder ihre Fäuste zu spüren bekommen.
Ein- oder zweimal seit sie fortgegangen war, war ihm auch in den Sinn gekommen, einfach alles bleiben zu lassen. Dann hatte er sich vorgestellt, wie er in der Badewanne lag, das Wasser so heiß, dass seine Haut krebsrot war, eine Rasierklinge in der Hand. Wie er auf dem Geländer einer Brücke stand und der Wind an seinen Hosenbeinen zerrte. Wie er sich den kalten Lauf einer Pistole in den Mund schob und noch einen kleinen Moment wartete, bis das Metall warm wurde, ehe er abdrückte.
Aber es wäre nicht gerecht gewesen. Es war doch nicht seine Schuld, dass er so war. Das hatte sie früher immer zu ihm gesagt, wenn er ganz traurig geworden war und am liebsten mit allem Schluss gemacht hätte.
Er war sich jetzt ganz sicher, dass es wirklich sie gewesen war, die er da vor ein paar Tagen gesehen hatte. Es musste sie gewesen sein. Warum sonst hätte sie von sich aus Kontakt zu ihm suchen sollen? Es war genau das eingetreten, was er sich so sehr erhofft hatte: Sie war zu ihm gekommen. Sie war noch genauso schön wie früher. Ein wenig älter, aber das störte ihn nicht. Er war doch auch älter geworden. Das war auch nicht wichtig.
Nur eins war wichtig: Sie wollte wieder bei ihm sein. Das merkte er daran, dass sie so tat, als wäre sie jemand ganz anderes. Jemand Fremdes. Nicht mehr seine Kirsten. Kirsten Küver. So hieß sie wirklich. Nur jetzt nannte sie sich anders.
Das war etwas Neues, aber es machte ihm Spaß. Er glaubte, auch zu wissen, warum sie es so wollte: Er tat ja schließlich auch, als wäre er jemand anderes. Vielleicht war das ihre Art, ihm zu sagen, dass er alles richtig machte. Es gab nur einen Weg, das herauszufinden, und er war fest entschlossen, diesen Weg zu gehen. Er wollte sie auf keinen Fall enttäuschen.
55
Als Jule die Zufahrtsstraße zu Fehrs’ Hof in Richtung Odisworth hinunterfuhr, entwickelte sie zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder ein Gespür dafür, weshalb die meisten Menschen Autos mochten. Es war etwas Wahres daran, dass ein Auto ein Stück Freiheit bedeutete, auch wenn es in ihrem Fall nur die Freiheit war, Erich Fehrs entkommen zu sein.
Was ihr dabei half, die stickige Atmosphäre des verwahrlosten alten Hauses zu vergessen, war die Weite des Landes und die Ferne des Horizonts, auf dem die Sonne als leuchtender Ball stand, dem Jule auf der schnurgeraden Straße entgegenstrebte. Die Kronen der Bäume am Wegesrand neigten sich unter einem frischen Wind, der davon kündete, dass eine andere, unendlich scheinende Weite nicht allzu fern war – die See. Jule war versucht, eine Route zur Küste ins Navi einzugeben, wo sie an einem einsamen Strand die nackten Zehen in den kühlen Sand graben konnte.
Über diesem Gedanken gewann sie eine weitere Einsicht: Manche Menschen fuhren auch deswegen so gern Auto, weil ihr Wagen für sie eine Art Rückzugsort darstellte, wie den, den sie sich gerade erträumt hatte. Eigentlich war es bei ihr früher – vor dem Unfall – auch nicht anders gewesen. Wenn sie allein in ihrem Wagen unterwegs gewesen war, hatte sie die Musik hören können, die sie hören wollte – ohne dass ihre Mutter oder ihr Vater sich bei ihr beschwerten und sie ermahnten, den Krach endlich leiser zu drehen. In ihr Auto konnte sie einladen, wer ihr gefiel – auch die Klassenkameraden und Freunde, die ihre Eltern nicht mochten, weil sie sich die Nase hatten piercen lassen oder sich die Haare knallpink färbten. Ihr Auto war ihr eigenes kleines Reich gewesen, in dem sie die Alleinherrscherin war und frei darüber verfügte, welchen Träumen sie nachhing.
Als sie auf die Odisworther Hauptstraße abbog, kamen ihr Rolf Behr und die sonderbare Angewohnheit des kräftigen Mechanikers in den Sinn, Autos wie lebendige Geschöpfe zu behandeln. Nach ihren jüngsten Erfahrungen mit Fehrs erkannte sie einen gewaltigen Vorteil dieser Marotte: Autos konnten nicht verrückt werden. Sie waren hoch entwickelte Maschinen, die genau das taten, was man von ihnen erwartete. Nicht mehr und nicht weniger. Daraus leitete sich zwangsläufig ab, dass sie einen auch nie enttäuschen konnten. Jule kannte keinen Menschen, auf den dies zutraf, und die Klarheit dieser Einsicht war bedrückend.
An der nächsten Biegung sah sie die Pension Jepsen mit dem gemauerten
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