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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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Besen in der Fassade auftauchen. Sie setzte mechanisch den Blinker und ging vom Gas, um keine zu heftige Bremsung hinlegen zu müssen.
    Jule musste an Smolski denken, den sie in der Pension kennengelernt hatte und der wie durch einen Wink des Schicksals in exakt jenem Moment bei Fehrs vorstellig geworden war, als sie seine Unterstützung am meisten gebraucht hatte. Zufall? Schicksal? War Smolski zu Fehrs gegangen, um ihn zu verhaften? Hatte Frau Jepsen mit ihren Verdächtigungen recht behalten? Aber wäre Smolski dann völlig allein zu Fehrs gekommen? Hätte er dann nicht wenigstens noch seinen Partner zur Begleitung gehabt, für den Fall, dass sich Fehrs einer Festnahme widersetzte? Oder war alles ganz anders und –
    Der Junge auf dem Mountainbike raste aus einem schmalen Weg quer über den Bürgersteig.
    Es war wie bei ihrem letzten Unfall: Die Zeit dehnte sich wie ein Gummiband, bis Jule winzige Sekundenbruchteile wie Minuten erschienen.
    Sie bemerkte ganz beiläufige Einzelheiten an dem Jungen, den sie gleich überfahren würde: Seine Statur passte nicht zu seinem Alter. Der weiche Babyspeck in seinem Gesicht war von Sommersprossen gesprenkelt. Sein halb langes schmutzig braunes Haar wurde vom Fahrtwind zerzaust. Die hohen Turnschuhe mit den blauen Schnürsenkeln. Die schwarze Bomberjacke, die mindestens eine Nummer zu klein für seine breiten Schultern war. Wie weit vornübergebeugt er im Sattel saß, das Kinn keine Handbreit über dem Lenker, um den er die Finger so fest gekrallt hatte, dass die Knöchel weiß durch die gebräunte Haut schimmerten. Wie sein Mund aufklappte, als er die Kühlerhaube auf sich zurauschen sah, und wie sein Blick – ohnmächtig und wild zugleich – ihren eigenen kreuzte. Er wusste es. Er wusste, was gleich passieren würde.
    Jule glaubte, das Lenkrad gegen ihre Handflächen pochen zu spüren – ein warmes forderndes Pulsieren. Das Kunstleder glitt über ihre Haut, das Steuer zuckte ein kleines Stück nach links. Und diese leisen Empfindungen genügten, um den Bann zu brechen. Schreiend trat Jule auf die Bremse und riss das Steuer herum.
    Das Heck des BMW brach aus. Im Ansatz einer Drehung schlitterte das Auto über den Asphalt. Der Junge auf dem Rad wurde von seinen eigenen Instinkten verraten: Seine Reflexe zwangen ihn dazu, sich vor dem nahenden Zusammenprall wegzuducken. Er verlor das Gleichgewicht, stellte den Lenker quer und kippte samt seinem Mountainbike um und verschwand damit aus Jules Blickfeld.
    Jule hielt das Lenkrad umklammert und den Fuß fest auf der Bremse. Gleich. Gleich würde sie es hören. Sie würde die Erschütterungen in ihren Armen spüren. Sie wartete auf den hässlich knirschenden Schlag, mit dem die Front des Wagens dem Jungen die Knochen zerschmetterte.

56
     
    Alle hatten Jule belogen. Ihre Eltern, Caro, Lothar Seger. Ihre Angst, die sie seit Jahren umtrieb, war real. Sie war nicht aus irgendwelchen kranken Hirngespinsten geboren: Das Schreckliche, was sich einmal in ihrem Leben ereignet hatte, konnte sich jederzeit wieder ereignen. Und nun war dieser Zeitpunkt gekommen.
    Vergangenheit und Gegenwart begannen, sich für sie zu überlagern wie bei einem doppelt belichteten Foto: Die breite Odisworther Hauptstraße verengte sich zu einer schmalen Seitenstraße. Der schwarze Asphalt war mit einem Mal von einer glitzernden Eisschicht überzogen. Das beruhigende Gemurmel des Infosenders steigerte sich zum aufpeitschenden Wehklagen einer Frau, die vom Verlust ihres Geliebten sang.
    Dann stand der Wagen plötzlich. Das furchtbare Geräusch war ausgeblieben. Jule begriff nicht gleich.
    Der Junge tauchte wankend über dem Rand der Motorhaube auf und verscheuchte die geisterhaften Bilder aus Jules Kopf. Sein Gesicht war vor Wut und Schmerz verzerrt. »Kannst du nicht aufpassen, du blöde Fotze?«, brüllte er.
    Jule ließ die Beleidigung stumm und ungläubig über sich ergehen. Dem Jungen ging es gut. Sein linker Jackenärmel war über dem Ellbogen durchgescheuert, und er humpelte leicht, als er auf die Fahrerseite des Wagens zuging. Jules Fuß rutschte vom Pedal. Der Wagen ruckte nach vorn und soff ab. Dem Jungen war nichts passiert. »Bist du bescheuert, oder was?«
    Er hämmerte zweimal mit der flachen Hand gegen das Fenster in der Fahrertür. Jule starrte auf den blutigen Abdruck seiner Handfläche. Der Junge lebte.
    »Hallo? Ich rede mit dir, du blöde Kuh!«
    Jule wehrte sich nicht gegen das Lachen, das ihren gesamten Körper schüttelte. Er

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