Der Wind bringt den Tod
dass er sein Land zu Lebzeiten nicht aus freien Stücken verkaufen oder verpachten würde – der alte Schweinebauer hatte sich ganz dem Motto »Nur über meine Leiche« verpflichtet. Was seinen Nachbarn anging, musste Jule wohl oder übel darauf warten, bis Andreas sich bei ihr meldete, der hoffentlich wusste, wie man mit Jan Nissen Kontakt aufnahm. Es blieb derzeit also nur noch Hanno Küver als Ansprechpartner, wenn sie das Projekt vorantreiben wollte. Sie nahm ihr Smartphone und wählte seine Nummer.
Das Telefonat verlief ernüchternd. Hanno Küver hatte zwar eine freundliche Stimme, und er hörte sich Jules Anfrage wegen eines möglichen Treffens geduldig an. Er erklärte ihr allerdings auch, sie spreche in dieser Angelegenheit besser mit seiner Frau Anke, die führe die Bücher – und damit gleich auch die Finanzen des Hofs – und er würde sich daheim Ärger einhandeln, wenn er sich in dieser Sache zu weit aus dem Fenster lehne. Heute würde es allerdings mit einem Treffen sowieso nichts mehr werden, aber sie könne gerne morgen Nachmittag vorbeischauen. Sie solle sich aber nicht zu viel davon versprechen, weil er und seine Frau im Augenblick vollkommen andere Dinge im Kopf hätten als »ein paar alberne Windräder«. Danach würgte er Jule unvermittelt ab.
Nachdem Jule sich im Telefonbuch bis Z vorgearbeitet hatte, aber auf keine neuen Erkenntnisse mehr gestoßen war, beschloss sie, sich ein wenig Abstand zu der Sache zu gönnen. Sie ging in ihr Zimmer und holte aus ihrem Köfferchen die Reiselektüre, die sie im vorderen Fach verstaut hatte. Es handelte sich um die Taschenbuchausgabe eines Romans, dessen Grundprämisse ihr so unrealistisch erschienen war, dass sie ihn bereits zweimal angefangen und wieder zur Seite gelegt hatte: Eine junge Frau fand ein leeres Tagebuch, nur um schnell festzustellen, dass sich jeden Tag eine Seite davon füllte und dass dieser wundersame Text ihr eigenes Leben beschrieb. Selbstverständlich hatte die Heldin auch ein mehr oder minder dunkles Familiengeheimnis aufzudecken, wobei ihr das magische Tagebuch gute Dienste leistete, und ebenso selbstverständlich lief das alles nicht ohne Liebesgeschichte ab.
Jule schob es auf ihre derzeitigen Umstände, dass sie im dritten Anlauf mehr Interesse an der Geschichte hatte. Sie war in diesem Dorf doch selbst von Geheimnissen förmlich umzingelt, und sie wünschte sich sogar, sie wäre vorhin auf der Suche nach dem verschollenen Brief ebenfalls auf ein Buch gestoßen, das ihr Stück für Stück verriet, dass am Ende alles gut ausgehen würde: Dass Smolski den Mörder stellte, der hier umging. Dass Anke Küver morgen hellauf begeistert darüber war, ihr Land zur Verfügung zu stellen. Dass Erich Fehrs es sich anders überlegte und von stur auf kooperativ schaltete. Dass gleich Jules Handy klingelte und Jan Nissen am anderen Ende der Leitung war, weil er schon gehört hatte, dass Jule dringend mit ihm sprechen wolle.
Kurz vor sechs wurde sie unruhig, klappte das Buch zu und beschloss, etwas zu tun, was sie gleich heute Morgen hätte tun sollen. So schmerzhaft und beschämend es auch sein mochte, konnte sie nicht länger leugnen, dass es ihr in ihrem Leben leichter ergangen wäre, wenn sie sich nach ihrem Unfall nicht in ihre Angst verkrochen hätte wie eine Schnecke in ihr Haus. Sie hätte viel früher mit einer Therapie beginnen sollen, um das Erlebte zu verarbeiten. Sie kannte sich gut genug, um zu wissen, dass es ihr ungeachtet des glücklichen Ausgangs gestern wieder schwerfallen würde, Auto zu fahren, falls sie sich jetzt nicht zügig hinters Steuer setzte. Es war wie mit dem Reiten oder dem Fahrradfahren: Wenn man sich nach einem Sturz nicht bald wieder in den Sattel schwang, hatte man auf ewig Angst davor. Und sie konnte vor ihrer Angst nicht davonlaufen. Sie wollte nicht mehr vor ihrer Angst davonlaufen! Sie musste Auto fahren. Gleich jetzt.
Sie ging hinunter ins Erdgeschoss und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als sie den Jepsens mitteilte, dass sie im »Dorfkrug« zu Abend essen würde. Eva und Malte zeigten sich enttäuscht, konnten jedoch ihre Erklärung verstehen, sie habe das dringende Bedürfnis, zwanglos mit einigen anderen Odisworthern zu plaudern, um ihnen zu zeigen, dass Zephiron nicht der bitterböse, skrupellose Konzern war, als den ihn die Pastorin und die sonstigen Gegner des Windparks hinstellten. Beim Zuziehen der Haustür begriff Jule, dass in ihrer Notlüge tatsächlich eine adäquate
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