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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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wechselhafte Schatten auf die Felder warf. Meine Großmutter hatte jemanden namens Charlie geliebt. Gewiss war er der Mann, an den der Brief gerichtet war. Doch er war gestorben. Ich spürte, wie die Welt einen Moment lang zurückwich. Wäre er nicht gestorben, hätte Grandma vielleicht ihn geheiratet. Dann wäre sie Grandpa nie begegnet. Mum oder Onkel Mike wären nie geboren worden. Mich hätte es nie gegeben. Und doch wünschte ich mir um Grandmas willen, dass ihr Leben anders verlaufen wäre. Es ist schrecklich, den Mann zu verlieren, den man liebt.
     
    Am folgenden Samstag war Mina wieder brillant. Sie erinnerte sich an den gesamten Tanz, und Marlon gestaltete nun den Rest des Auftritts. Sechs weitere Kinder tanzten mit ganz einfachen, langsamen Bewegungen um sie herum, und es sah wunderschön aus. Marlon kannte Minas Choreografie schon auswendig, veränderte einige Bewegungen, die ihr schwerfielen, und ich kam mir ein bisschen nutzlos vor. Ich saß da, schaute zu und merkte, dass mein Knie nach der langen Fahrt gar nicht so schmerzte wie sonst.
    Der Frühling ging in den Sommer über. Der Auftritt nahte. Der Garten wurde ordentlicher. Die letzte Kiste war ausgeräumt und verstaut. Für Monica blieb nichts mehr zu tun, und so ließ ich sie mit großem Bedauern ziehen. Sie versprach, mich einmal in der Woche zu besuchen, was sie auch tat, aber es war nicht mehr dasselbe. Ich vermisste sie. Patrick war sehr beschäftigt. Ich fühlte mich einsam.
    Ich ging viel spazieren. Manchmal lief ich sogar. Ich versuchte zu tanzen, aber es war nur ein schwaches Abbild dessen, was ich einmal gekonnt hatte. Die Erkenntnis, dass mein Körper sich nie wieder so bewegen würde, traf mich mit voller Wucht. Die Biegsamkeit war verschwunden, und wenn ich nicht aufpasste, tat sofort etwas weh. Ich musste noch immer deswegen weinen.
    Es waren noch drei Wochen bis zum Auftritt, und Marlon hatte vier abendliche Kostümproben angesetzt.
    »Sie müsssen nicht mitkommen«, sagte Patrick. »Die Fahrt ist doch so weit.«
    »Meinem Knie geht es ganz gut. Und ich möchte Mina so gern in ihrem Kostüm sehen.«
    Die Sommerabende waren göttlich. Das Licht blieb lange über dem Land, die Luft duftete süß. Ganz anders als der verräucherte Londoner Sommer. Als wir vor der Schule aus dem Auto stiegen, roch es wunderbar: frisch gemähtes Gras, Blumen, leckeres Essen. Ich atmete tief und dankbar ein.
    Auf der anderen Seite des Parkplatzes wurde Mina gerade von ihrem Vater abgesetzt. Ich reckte den Hals, um ihn zu sehen.
    »Ich nehme an, er wird auch dieses Jahr nicht beim Auftritt dabei sein.«
    »Mischen Sie sich lieber nicht ein, Emma.«
    Mina winkte. Sie war aufgeregt, weil es Abend war und das Licht in der Aula brannte und alles so anders war als sonst.
    Ich ging hin und nahm ihre Hand, beugte mich in den Wagen und sagte zu ihrem Vater: »Sie sollten hereinkommen, Mr. Carter.«
    »Keine Zeit«, knurrte er.
    »Schaffen Sie es denn dieses Jahr zum Auftritt?«
    Er funkelte mich an. »Das geht Sie nichts an.«
    »Emma«, sagte Patrick warnend.
    »Sie ist eine wunderschöne Tänzerin. Es wäre schade, wenn Sie es versäumten.«
    »Machen Sie bitte die Tür zu. Ich habe es eilig.«
    Ich gehorchte, und Mina schaute mich verwirrt an. »Er hat viel zu tun.«
    »Ich weiß.« Ich streichelte ihr Haar. »Es wäre nur so schön, wenn er dich tanzen sähe.«
    Wir gingen in die Aula, und als Mina zu ihren Freunden lief, sagte Patrick in strengem Ton: »Sie hätten nichts sagen sollen.«
    »Er ist ein egoistischer Mistkerl.«
    »Das wissen Sie nicht.«
    »Er wollte sie nicht mal während des Gewitters bei mir abholen, obwohl sie vor Angst geschluchzt hat.«
    Patrick zuckte mit den Schultern. Ich wurde allmählich wütend.
    »Tut mir leid, aber Marlon hat es mir vom ersten Tag an eingeschärft. Wir können nicht wissen, was in diesen Familien vorgeht, sie haben alle mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Er tut sein Bestes, um gutes Geld zu verdienen, und ist trotzdem zu Hause. Das ist bewundernswert.«
    »Aber er ist zu beschäftigt, um Zeit mit ihr zu verbringen. Für Liebe darf man nicht zu beschäftigt sein.« Noch während ich es aussprach, überkam mich das furchtbare Gefühl, dass ich genau das gewesen war. Dass ich bis zu meinem erzwungenen Rückzug mein ganzes Leben lang zu beschäftigt für die Liebe gewesen war. Ich hatte Grandma vor ihrem Tod nicht mehr besucht, ich wollte meine Mutter nicht besuchen, selbst Josh war es leid geworden, dass ich

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