Der Wind der Erinnerung
Mina tanzte, war sie schön.
Patrick beugte sich vor und sagte mir leise ins Ohr: »Sie haben tolle Arbeit mit ihr geleistet. Und mit dem Tanz. Die Bewegungen sind wie für sie gemacht.«
»Sie macht die ganze Arbeit. Sie besitzt eine natürliche Anmut.« Mir fiel wieder ein, was Monica gesagt hatte: dass Patrick mich
richtig
mochte. Ich spürte die Wärme seines Arms an meinem und gestattete mir, sie zu genießen.
»Hört auf zu reden, seht zu!«, befahl Mina mitten in einem
relevé.
Wir lachten und wandten ihr wieder unsere Aufmerksamkeit zu. Ihre Augen strahlten vor Glück, und ich hatte eine Lektion gelernt. Mina würde niemals richtig Ballett tanzen können, aber sie tanzte. Und es machte sie glücklich.
Als sie fertig war, applaudierten wir lautstark, und sie verbeugte sich und warf uns Kusshände zu.
»Jetzt bin ich müde.«
»Gut. Das bedeutet, du hast hart gearbeitet. Echte Ballerinas arbeiten sehr hart.«
Sie holte das Leiterspiel aus ihrem Koffer, und wir setzten uns auf den Fußboden und spielten gemeinsam. Mein Knie tat weh, aber das war mir ziemlich egal. Als es dämmerte, verabschiedete sich Patrick.
Mina wurde wieder unsicher wie vorhin bei ihrer Ankunft.
»Es ist gut, Mina, ich bin ja bei dir.«
»Ist das ein ganz sicheres Haus? Sind Schlösser an den Türen?«
»Natürlich.«
Ich brachte Patrick zur Tür. Ich merkte, wie er zögerte. Vielleicht zögerte ich auch, ihn gehen zu lassen. Als er wegfuhr, spürte ich ein schmerzliches Bedauern. Der kühle Abend legte sich über die Felder, der Wind säuselte in den Eukalyptusbäumen. Ich ging hinein, um das Abendessen vorzubereiten.
Mina half mir. Sie setzte sich an den Tisch und pulte Erbsen, während ich das Hähnchen für den Nudelauflauf zerlegte.
»Was macht mein Daddy jetzt?«
»Das weiß ich nicht. Was macht er denn normalerweise am Samstagnachmittag?«
»Er arbeitet am Computer.«
»Nun, dann tut er das jetzt sicher auch.« Ich setzte mich neben sie. »Vermisst du ihn?«
Sie lächelte. »Ein bisschen.«
»Du siehst ihn ja morgen wieder. Wir müssen vorher noch ein bisschen proben.« Ich drückte ihre Hand. »Möchtest du lieber nach Hause fahren? Dann kann Patrick dich abholen.«
»Nein. Es geht schon. Balletttänzerinnen müssen richtig hart arbeiten.«
»Das stimmt.«
»Dann bleibe ich hier und arbeite.«
Gegen Mitternacht frischte der Wind auf, und in der Ferne grollte der Donner. Ich stand auf, um das Schlafzimmerfenster zu schließen. Als ich mich wieder hinlegen wollte, hörte ich ein Klopfen.
Ich setzte mich. Das Klopfen kam von der Wand nebenan.
Ich ging nach drüben.
»Mina?« Ich öffnete die Tür.
Sie blickte mich an. Sie hatte an die Wand geklopft, so wie ich gestern. Als ich das Licht einschaltete, sah ich ihre Tränen.
»Mina, was ist denn?« Ich eilte zu ihr.
Sie sagte etwas, doch die Zunge war ihr beim Sprechen im Weg. Ich ergriff ihre Hand. Sie war kalt und feucht. Mina hatte Angst. »Soll ich deinen Vater anrufen, damit er dich abholt?«
Sie nickte schluchzend.
Ich nahm sie mit in mein Schlafzimmer und legte sie ins Bett. »Warte hier, es ist warm und gemütlich. Ich rufe deinen Daddy an.«
Sie nickte wieder.
Ich ging nach unten und schaltete alle Lampen ein. Dann wählte ich die Nummer, die Patrick mir aufgeschrieben hatte. Es klingelte und klingelte. Sechsmal. Siebenmal. Achtmal. Neun…
Dann endlich meldete er sich. »Hallo?«
»Mr. Carter, hier spricht Emma Blaxland-Hunter.«
»Was ist denn?« Es klang überhaupt nicht freundlich.
»Mina ist wegen des Gewitters durcheinander und möchte nach Hause.«
Stille. Ich wartete.
»Mr. Carter?«
»Ich fahre nicht bei Gewitter.«
Zuerst war ich zu schockiert, um zu sprechen. Dann sagte ich: »Aber sie weint vor Angst.«
»Wir alle müssen Dinge ertragen, die uns nicht gefallen. Sie muss jetzt bei Ihnen bleiben. Rufen Sie mich morgen früh an, wenn sie sich bis dahin nicht beruhigt hat.«
»Aber …«
»Das wird schon.« Dann hängte er ein.
Ich starrte das Telefon an, bevor ich den Hörer auflegte. Ich konnte nicht recht glauben, was soeben passiert war, und brannte innerlich vor Zorn.
Jetzt musste ich nach oben gehen und diesem wunderschönen, zerbrechlichen Mädchen erklären, dass sein Daddy es nicht abholen würde. Ich spielte mit dem Gedanken, Patrick anzurufen, wollte ihn aber nicht im Regen aus dem Haus jagen. Wie immer stieg ich vorsichtig die Treppe hinauf und atmete tief ein, um meinen Ärger unter Kontrolle zu halten.
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