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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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Eukalyptus hindurchspähte.
    »Was ist los?«
    »Ich weiß nicht.«
    Langsam stand ich auf und ging zu ihr hinüber. Ich rechnete mit irgendeinem Tier, einem toten Tier vielleicht. Doch das war es nicht. Ich runzelte die Stirn.
    »Das ist ein Kreuz.«
    »Wie in der Kirche.«
    »Ja. Hier muss etwas begraben liegen.« Oder jemand, dachte ich, sprach es aber nicht aus, um ihr keine Angst zu machen. »Mal sehen, ob wir uns einen Weg bahnen können.«
    Mina und ich räumten Zweige und welkes Laub aus dem Weg, dann hackte ich energisch auf die stacheligen Blätter ein. Endlich hatten wir es geschafft. Ich kniete mich behutsam hin. Das Kreuz war etwa dreißig Zentimeter hoch. Mit der Pflanzschaufel kratzte ich den Schmutz von Jahrzehnten ab, entdeckte Buchstaben. Da ich das Kreuz nicht aus der Erde ziehen wollte, rückte ich ganz nah heran und legte die übrigen Buchstaben frei.
    Ein Name stand senkrecht darauf: Charlie.
    »Heißt das was?«
    »Charlie«, antwortete ich. Es war ein Schock. Sollte hier wirklich jemand begraben liegen? Sicher nicht. Menschen wurden auf Friedhöfen begraben.
    Dann ertönte ein Motorgeräusch. Ich blickte auf und sah Patrick, der gerade in die Einfahrt bog. Das Sonnenlicht brach sich in der Windschutzscheibe. War es schon so spät?
    »Patrick!« Mina lief zu ihm, um ihn zu begrüßen.
    »Wir haben gar nicht geübt.« Ich ließ das Werkzeug fallen. Dabei fiel mir auf, dass ich schmutzig und verschwitzt und mein Haar nicht gewaschen war.
    »Wir haben im Garten gearbeitet und ein Kreuz gefunden«, erzählte Mina ihm.
    »Kann ich es sehen?« Sie führte ihn hin.
    »Charlie. Wer mag das wohl gewesen sein?«
    »Hoffentlich ein Haustier«, sagte ich.
    Patrick richtete sich auf und sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Ein Haustier? Meinen Sie wirklich? Auf Farmen sterben dauernd Tiere, deswegen wird niemand sentimental. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand auf dem Grab eines Tieres einen Baum pflanzt und ein Kreuz aufstellt. Das ist offensichtlich eine Art Denkmal. Für einen Menschen.«
    Er hatte recht, und ich wusste es. Man hatte das Kreuz absichtlich dort in die Erde gesteckt. Nur war mir die Vorstellung, dass auf der Koppel am Haus ein Mensch begraben lag, etwas unheimlich.
    »Pack deine Sachen, Mina.«
    »Okay.« Sie lief ins Haus, und Patrick lächelte mir zu.
    »Sie sind schmutzig im Gesicht.«
    »Wo?« Meine Hand zuckte verlegen zu meiner linken Wange.
    »Hier.« Er ergriff sanft meine Finger und führte sie an die andere Wange. Dann ließ er sie los.
    Ein warmes Kribbeln. Ich wischte den Schmutz ab. »Sie glauben also, hier sei ein Mensch begraben?«
    »Schon möglich. Graben Sie ihn doch aus«, scherzte er. Dann schaute er zu den Ästen hoch, die sich über uns ausbreiteten. »Ich würde hier nicht länger stehen bleiben. Einige Äste sehen aus, als würden sie absterben.«
    »Es hat wohl mit den Opossums zu tun. Ich muss etwas dagegen unternehmen. Dieser Baum ist wichtiger, als ich dachte.«
     
    Nachdem ich ausgiebig geduscht und den Schmutz und Schweiß des Tages weggespült hatte, fühlte ich mich entspannt und sauber und konnte in Ruhe über das Kreuz nachdenken. Im Grunde hatte ich den ganzen Tag daran gedacht. Ich ging nicht mehr nach draußen, um es mir noch einmal anzusehen, weil alles nass vom Tau war. Stattdessen öffnete ich das Fenster im großen Schlafzimmer. Der Mond war fast voll, und sein weißes Licht fiel auf die nassen Felder. Dort stand der Eukalyptus. Es war das einzige Zimmer im Haus, von dem man auf den Baum blickte.
    Die Szenerie weckte eine Erinnerung in mir. Ich konzentrierte mich darauf, versuchte, sie zu erhaschen. Dann begriff ich: Dies hier war das Gemälde aus Grandmas Haus, das sie immer ruhig und glücklich gemacht hatte. Von hier oben aus konnte ich es erkennen. Der Schwung des Hügels, dahinter der Felsen, es sah genauso aus. Dieser Baum war etwas Besonderes für sie gewesen. Sie hatte ihn so gepflanzt, dass sie ihn jeden Tag sehen konnte, und als sie das Haus verließ, hatte sie ihn malen lassen, damit er sie immer begleitete.
    Patrick hatte recht, der Baum war eine Art Denkmal. Ich hatte schon gedacht, er stünde zu nahe am Haus, aber das war vielleicht ihre Absicht gewesen. Sie wollte jemanden nahe bei sich behalten. Jemanden namens Charlie. Tränen brannten in meinen Augen, obwohl ich mich fragte, ob meine Phantasie überreagierte.
    Ich blieb lange dort stehen, atmete die Nachtluft ein und schaute zu, wie das silberne Mondlicht

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