Der Wind der Erinnerung
an.
Ruf an.
Die Träume wurden Wirklichkeit. Alles, was geschehen war – mein Unfall, die Erbschaft, das Leben auf Wildflower Hill –, wurde blass und leicht wie Seidenpapier. Ich kämpfte nicht mit meinem Gewissen, ich fragte mich nicht, ob ich einen Fehler beging. Ich hörte nur seine Stimme, wie ich es mir tausendmal ausgemalt hatte, und sie rief mich nach Hause.
Ich rief ihn an. Ich rief London an. Ich rief mein altes Leben an.
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Achtundzwanzig
Beattie: London 1965
B eattie ließ ihren kleinen Toilettenkoffer auf das frisch gemachte Bett fallen, während Ray sich mit den beiden großen Koffern durch die Tür des Hotelzimmers mühte. Er zerrte sie über den dicken braunen Teppich.
»Soll ich dir helfen?«
»Was für ein Ehemann wäre ich wohl, wenn ich nicht den Koffer meiner Frau tragen könnte?«, erwiderte er lachend.
Beattie setzte sich auf die Bettkante und schaute zu, wie er die Koffer hereinbrachte. Sein helles Haar wurde dünner, wies aber noch keine einzige graue Strähne auf, als hätten ihm die Jahre, in denen er im Rampenlicht gestanden und politische Verantwortung getragen hatte, gar nichts ausgemacht.
Er setzte sich neben sie. »Müde?«
»Mir geht es gut.«
»Dreißig Stunden im Flugzeug, und dir geht es gut.« Er strich ihr übers Haar. »Meine Beattie.«
»Wann musst du los?«
Ray sah auf die Uhr. Er war zu einer Konferenz nach London gekommen. Normalerweise begleitete Beattie ihn nicht, weil sie mit ihrer Firma in Sydney beschäftigt war. Allmählich aber gab sie die Zügel von Blaxland Wool in andere Hände, weil die Firma zu groß geworden war, um sie allein zu führen. Außerdem waren die Kinder im Teenageralter und genossen es, zehn Tage bei einer nachsichtigen Tante zu verbringen.
»Die Begrüßungsdrinks gibt es um sechs. Aber ich muss nicht hin. Die werden mich nicht vermissen.«
Beattie gähnte. Vielleicht ging es ihr doch nicht so gut. »Nein, geh ruhig. Ich lasse den Zimmerservice kommen und lese ein bisschen.«
»Geh nicht zu früh schlafen. Sonst bringst du deinen Rhythmus für die nächsten Tage durcheinander.«
»Ich bleibe auf, bis du wiederkommst.«
Sie räumte die Kleidung weg, während er duschte, sich rasierte, seine Unterlagen zusammensuchte und den Krawattenknoten festzog. Jetzt war er nicht mehr ihr Ray mit dem treuherzigen Grinsen und der Vorliebe für dumme, aber liebenswerte Streiche. Jetzt war er der Ehrenwerte Raymond Hunter MP , Abgeordneter für den Wahlbezirk Mortondale und Gesundheitsminister im Schattenkabinett.
»Ich komme nicht so spät.« Er küsste sie auf die Wange.
»Danke, Liebling.« Sie wollte lächeln, doch ihre Mundwinkel waren wie eingefroren.
Er musterte sie eingehend. »Irgendetwas stimmt nicht, oder?«
»Ich vermisse die Kinder«, sagte sie rasch.
Und noch mehr, aber das kann ich dir nicht sagen.
Sie schaute ihm ruhig in die blauen Augen. »Ich rufe deine Schwester an und frage, wie es ihnen geht. Danach fühle ich mich sicher besser.«
»Bestell ihnen schöne Grüße von mir.«
Nachdem er gegangen war, öffnete Beattie das Fenster und ließ Verkehrslärm und herbstliche Kühle herein. Sie setzte sich auf das hohe Bett und nahm ein Buch, konnte sich aber nicht konzentrieren. Sie war zuletzt mit Henry in London gewesen, bevor sie gemeinsam nach Tasmanien durchgebrannt waren. Doch davon wusste Ray nichts. Sie hatte nicht gewollt, dass ihre Vergangenheit zu einem dunklen, beschämenden Geheimnis wurde, doch irgendwie war es dazu gekommen. Ray wusste nicht, dass sie einen besonderen Grund hatte, mit ihm nach Großbritannien zu reisen. Beattie hoffte, zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren ihre Tochter zu sehen.
Charlies Tod hatte einen schmerzhaften Bruch in ihrem Leben verursacht. Doch die Schafschur stand bevor, daran ließ sich nichts ändern. Leo Sampson half ihr, so gut er konnte, und Peter und Matt leiteten die Arbeiten. Sie blieb oben in ihrem Zimmer, weinte stundenlang und saß vor dem Fenster, damit sie den Eukalyptusschössling sehen konnte, den sie auf Charlies Grab gepflanzt hatte. Nachts träumte sie, sie jage ihn durch einen dämmrigen Flur oder warte, dass er mit Birch von einem Ritt über die Farm zurückkehrte. Sie wartete und wartete, während die Sonne unterging und der Himmel kalt und schwarz wurde. Dann erwachte sie und spürte seinen Verlust wie am ersten Tag. Ihre Arme und Beine schmerzten so sehr, dass sie mit einer Krankheit rechnete; doch sie wurde niemals körperlich krank. Ihre
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