Der Wind der Erinnerung
an dem sie Wildflower Hill verließ, regnete es. Die neuen Pächter waren eingetroffen und schleppten ihre Möbel durch Schlamm und Pfützen. Drei kleine Jungen rannten ins Haus, sie quiekten vor Aufregung. Beattie tat es gut zu wissen, dass in diesem Haus wieder Gelächter und Liebe wohnen würden. Sie stieg ins Auto und schaute nicht mehr zurück zu Charlies Grab. Denn dann hätte sie geweint.
Vier Jahre später lernte sie in Sydney Ray kennen. Beattie war zu einem Wohltätigkeitsball des Vereins der Kriegswitwen eingeladen worden. Normalerweise blieb sie sehr für sich – nicht aus Menschenscheu, sondern aus Vorsicht. Natürlich war das Leben hier ganz anders als in Lewinford. Niemand wusste, dass sie eine ledige Mutter mit zweifelhafter Moral war. Niemand wusste, dass sie endlose Briefe nach Schottland schickte, wo ihre uneheliche Tochter bei ihrem Ex-Liebhaber und dessen Frau lebte. Niemand außer Leo Sampson wusste, welche Anstrengungen sie unternommen hatte, um Lucy mit Hilfe des trägen und teuren Justizsystems zu suchen, oder dass der endlose Krieg ihre Bemühungen doppelt schwierig gestaltet hatte. Gewiss wusste auch niemand, wie viele Tränen sie nachts vergoss, weil sie begriffen hatte, dass sich ihr Kind seit ihrer letzten Begegnung vollkommen verändert haben würde. Sie wusste kaum noch, wie Lucy aussah, und dass die lange Abwesenheit ihr Bedürfnis, das Mädchen wiederzusehen, abgeschwächt hatte. In vieler Hinsicht war die Lucy, die sie gekannt hatte, für immer verschwunden. Aus ihr war ein großer, fremder Teenager geworden. Jemand, der ihr wahrscheinlich feindselig begegnen würde, nachdem Henry und Molly ihr jahrelang Gift ins Ohr geträufelt hatten.
Der Ballsaal des
Wentworth Hotel
erstrahlte im Licht der Kronleuchter. Dutzende Tische waren mit edlem Porzellan und Silber für das Fünf-Gänge-Menü gedeckt, doch Beattie war viel zu nervös, um an Essen zu denken. Sie sollte nämlich eine Rede halten. Sie war in Sydney eine kleine Berühmtheit geworden, seit eine große amerikanische Kaufhauskette ihre Entwürfe ausgewählt hatte. Inzwischen machte sie etwa sechzig Prozent ihrer Umsätze im Export. Sie entwarf nicht länger Uniformen und Arbeitskleidung, sondern arbeitete für Kaufhäuser und Modesalons. Ihre praktischen, aber schönen Entwürfe waren gefragt, weil die Frauen neue Fähigkeiten und Macht an sich entdeckt hatten. Beattie war jung, alleinstehend und reich und somit zu einem Symbol ebendieser Eigenschaften geworden.
The Australian Women’s Weekly
hatte kurz nach Weihnachten einen Artikel über sie gebracht, und sie wurde sogar von Zeit zu Zeit auf der Straße erkannt.
Die wohlhabenden Gäste strömten herein. Frauen in langen, bestickten Roben, mit Stolen aus Fuchspelz und Wildledertaschen; Männer in zweiteiligen Flanellanzügen, mit Seidenkrawatten, goldenen Krawattennadeln und -ketten. Beattie hatte einen eigenen Entwurf ausgewählt, einen kurzen Rock mit Kellerfalten, eine seidene Bluse mit V-Ausschnitt und hochhackige, mit Schleifen dekorierte Schuhe. Der Raum füllte sich mit Zigarrenrauch, so dass sie kaum noch atmen konnte. Sie bat einen Kellner um ein Glas Brandy und kippte es zu seiner Überraschung in einem Zug hinunter.
»Vielen Dank. Schon besser.« Sie gab ihm das Glas zurück.
Endlich war es an der Zeit für ihre Rede. Das Licht wurde gedämpft, und sie betrat das Podium, wo sie sich ans Pult klammerte und tief Luft holte.
Man hatte sie gebeten, über ihre Erfolgsgeschichte zu sprechen. Leider musste sie dabei vieles verschweigen. Sicher, sie war eine arme Immigrantin aus Schottland gewesen, die ums Überleben gekämpft hatte, indem sie für Margaret Day gearbeitet und abgerissene Knöpfe an Jacken genäht hatte. Doch sie erwähnte nicht das Kind, das sie unterstützen musste, und den betrunkenen, spielsüchtigen Ehemann, vor dem sie geflohen war, und den lüsternen Arbeitgeber, den sie überlistet hatte. Sicher, sie hatte in langen Wintern die Schafe zusammengetrieben, bis ihre Hände rot und wund waren, und war nach Hause zurückgekehrt, wo sie ein karges Abendessen aus einem Brocken Wildkaninchenfleisch und Pastinaken erwartete. Doch sie erwähnte nicht den Mann, der ihr das Reiten beigebracht hatte, der sie geliebt und in schweren Zeiten unterstützt hatte. Ihr Leben auf diese Weise zu schildern bedeutete, dass sie alle Kontraste ausblenden und es sehr viel langweiliger machen musste. Doch sie konnte kaum vor die feine Gesellschaft von Sydney treten,
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