Der Wind der Erinnerung
von einem unehelichen Kind erzählen, dass sie die Farm bei einer geschmacklosen Wette gewonnen und eine leidenschaftliche Affäre mit einem Schwarzen gehabt hatte. Sie fragte sich, ob diese unerfreulichen Wahrheiten irgendwann ans Licht gelangen würden oder ob die Leute von Lewinford sich damit zufriedengäben, sie niemals wieder zu erwähnen. Vermutlich waren sie so beschränkt, dass sie von ihrem Erfolg gar nichts wussten.
Sie beendete ihre Rede und kam sich wie eine Betrügerin vor, doch das Publikum brach in begeisterten Applaus aus. Beattie war verblüfft, sie hatte geglaubt, alle zu langweilen.
»Vielen Dank«, murmelte sie, »vielen Dank.«
Die Kapelle stimmte Musik an, als sie die Bühne verließ, und das Publikum strömte auf die Tanzfläche. Beattie kehrte an ihren Tisch zurück, wo ein Teller mit geschmolzenem Eis stand. Plötzlich war sie furchtbar hungrig und verschlang das Eis, worauf ihr leicht übel wurde. Die anderen Gäste beugten sich zu ihr – sie rochen nach teurem Parfüm und Pomade – und erzählten ihr, wie wunderbar ihre Rede gewesen sei. Dann gingen auch sie auf die Tanzfläche. Beattie saß ganz allein da und überlegte, wann sie sich davonstehlen könnte, ohne unhöflich zu wirken.
»Miss Blaxland?«
Neben ihr stand ein hochgewachsener Mann mit blondem Haar und freundlichen Augen. Er trug einen wunderbar geschnittenen, gestreiften Tuchanzug.
»Hallo.«
»Dürfte ich um diesen Tanz bitten?«
Beattie schaute zur Tanzfläche und zurück zu ihm. Sie konnte nicht tanzen. Ihr ganzes Leben lang war sie nie in einem Ballsaal gewesen. Die anderen Frauen waren elegant und wussten genau, was sie taten.
»Es tut mir leid. Mir ist gerade nicht nach Tanzen zumute.«
Er zögerte und fragte sich vermutlich, ob die Ablehnung auch seiner Person galt.
»Dürfte ich Ihnen denn ein Glas Champagner besorgen?«
Sie bedauerte, dass sie seine Aufforderung abgelehnt hatte, denn er schien wirklich nett zu sein. »Natürlich, sehr gern.«
Sie wartete, bis er zurückkam. Wäre sie doch nur gegangen, als noch Gelegenheit dazu war.
Er setzte sich zu ihr und bot ihr einen Champagnerkelch an. Sie trank langsam, weil ihr der Alkohol auf leeren Magen sofort zu Kopf steigen würde.
»Dürfte ich mich richtig vorstellen?« Er schaute sie unverwandt an. »Raymond Hunter, Abgeordneter für Mortondale.«
»Es ist mir ein Vergnügen.«
»Ihre Rede hat mir sehr gefallen.«
»Ich dachte, ich hätte alle gelangweilt.«
»Ganz und gar nicht. Wir waren bezaubert. Ich jedenfalls.«
Nicht so schnell trinken, Beattie.
Sie stellte das Glas ab und holte tief Luft. »Und wie lange sind Sie schon im Parlament?«
»Dreieinhalb Jahre.« Er lächelte. »Obwohl es mir manchmal wie hundert vorkommt.«
Sie lachte leise. Er fasste Mut und erzählte ein paar Geschichten über das Leben in Canberra. Sein selbstironischer Humor entwaffnete sie, und bald lachte sie ebenso laut wie die rotgesichtige Herzoginwitwe am Nebentisch, die zu viel getrunken hatte. Ihr Fluchtinstinkt legte sich, und als er fragte, ob er sie am nächsten Tag anrufen und zum Abendessen einladen dürfe, sagte Beattie nicht nein.
Sie sagte aber auch nicht ja.
»Fragen Sie mich morgen, wenn ich nichts getrunken habe.« Zum Beweis hielt sie ihm den leeren Champagnerkelch hin. »Ich gebe Ihnen meine Nummer in der Firma.«
Er schrieb die Nummer respektvoll mit einem schwarzen Füllfederhalter nieder und brachte sie zum Taxi. Sie lächelte auf dem ganzen Nachhauseweg und amüsierte sich immer noch über seine Witze.
Beattie hatte gelernt, Privatleben und Arbeit voneinander zu trennen. In den ersten beiden Jahren in Sydney hatte sie unmittelbar über der Werkstatt gewohnt und vom Aufwachen bis zum Schlafengehen gearbeitet. Inzwischen fuhr sie jeden Morgen mit der Straßenbahn in die Castlereagh Street, wo sich die kleine Werkstatt mit Schreibtisch und Telefon befand. Den ganzen Tag arbeitete sie beim Geräusch der elektrischen Nähmaschinen. Ray rief kurz nach dem Mittagessen an, nachdem sie schon geglaubt hatte, er werde sich nicht melden, was sie seltsam enttäuscht hatte.
»Und?«
»Ja«, antwortete sie.
Und so kam sie fast gegen ihren Willen zu einem neuen Verehrer.
[home]
Neunundzwanzig
E igentlich hatte Beattie ihre Tochter gar nicht vor Ray geheim halten wollen. Sie hatte nur nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden, um es ihm zu sagen. Sie hatten sich zweimal verabredet, bevor er nach Canberra zurückkehren musste. Er hatte noch nicht einmal
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