Der Wind der Erinnerung
ihre Hand gehalten, geschweige denn sie geküsst. Es war einfach noch zu früh, um ihre dunkle Vergangenheit zu offenbaren. Er blieb zwei Monate weg und schrieb ihr Briefe voller humorvoller Betrachtungen. Er versprach, wieder mit ihr auszugehen, wenn er zurückkam. Ihr Leben ging weiter, und sie dachte kaum noch an ihn.
Kurz vor Ostern war er wieder da und überraschte sie mit seinem Verhalten. Er benahm sich, als wären sie bereits ein Paar. Er lud sie in ein Restaurant in der Pitt Street ein und sagte, wie sehr er sie vermisst habe. Sie fühlte sich geschmeichelt. Das war alles.
Oder doch nicht? In seiner Gesellschaft konnte sie sich wunderbar entspannen. Sie mochte ihn, sehr sogar, weil er freundliche Augen und einen jungenhaften Humor hatte.
An jenem Abend küsste er sie vor der Tür sanft auf die Lippen. Ihre Reaktion überraschte sie. Sie drückte sich an ihn und erwiderte seinen Kuss mit Leidenschaft. Es war so lange her, dass jemand sie so gehalten hatte. Doch dann löste er sich sanft von ihr und lachte.
»Am Wochenende habe ich eine Überraschung für dich.«
»Was denn?«
»Wenn ich es dir sage, ist es keine Überraschung mehr.«
Also wartete sie die ganze Woche und dachte in ihren Mußestunden an ihn. Doch sie nahm ihn immer noch nicht richtig ernst.
Am Freitag schickte Ray eine Karte, dass sie Sachen für eine Übernachtung packen und am Samstagmorgen abreisebereit sein solle. Damit war ihre Neugier geweckt. Eine Übernachtung – wollte er mit ihr schlafen? Vielleicht hatte ihre leidenschaftliche Umarmung ihn darauf hoffen lassen. Würde sie es tun?
Um kurz vor neun fuhr er in seinem großen Dodge vor. Er sah gut aus mit seinem blonden Haar und dem schlanken, durchtrainierten Körper. Doch trotz seines jungenhaften Äußeren besaß er Autorität und trug schon politische Verantwortung. Sie fragte sich, ob er sich in Canberra wohl anders verhielt. Er packte ihren Koffer ins Auto, und sie fuhren los.
»Wohin geht es denn?«
»In die Berge«, erwiderte er lächelnd.
Die Herbstluft war klar und kühl. In den Tälern lag ein blasser, bläulicher Nebel. Die Bergstraße wand sich in die Höhe. Die Sonne schien hell auf die Motorhaube und die gelben Blätter der Bäume, die die Straße säumten. Sie genoss es, schweigend dazusitzen und die Landschaft vorbeiziehen zu sehen. Mit ihm zusammen zu sein war so einfach. Sie schaute ihn an, während er die Augen fest auf die Straße geheftet hielt.
»Ich merke, dass du mich ansiehst, Beattie.«
Sie lachte.
»Was machen wir in den Bergen?«
»Meine Eltern wohnen in Katoomba. Ich wollte dich ihnen vorstellen.«
Ihr Herz kühlte ab. »Wirklich?« Er fuhr mit ihr zu seinen Eltern? War die Sache denn so ernst? Sie hatte ihm noch gar nichts über ihre Vergangenheit erzählt. Sollte sie es jetzt tun?
»Keine Sorge, sie sind sehr nett.«
»Ich … ich hätte nicht gedacht, dass du mich schon deiner Familie vorstellen willst.«
Er warf ihr einen scharfen Blick zu und richtete die Augen wieder auf die Straße. »Sind wir denn nicht seit Januar zusammen?«
»Ja, schon. Aber du warst zwischendurch zwei Monate in Canberra.«
»Ich komme mir ein bisschen dumm vor, Beattie. Gibt es einen anderen?«
»Nein«, sagte sie rasch. »Natürlich nicht.«
»Dann kann es auch nicht schaden, wenn du meine Eltern kennenlernst. Sie haben ein Gästehaus neben ihrem, dort können wir übernachten. Einfach mal raus aus der Stadt. Die Bergluft ist sehr belebend.« Er hatte sich rasch wieder in der Gewalt und begann fröhlich zu jodeln.
Beattie musste lachen, was ihn weiter anstachelte. Sie lachte, bis ihr der Bauch weh tat und die Tränen übers Gesicht liefen.
Seine Eltern waren tatsächlich sehr freundlich. Der Tag verging bei einem langen Mittagessen und einem noch längeren Spaziergang, bis Ray und Beattie sich in der Abendkühle ins Gästehaus zurückzogen.
»Du wirst sehen, es gibt zwei Schlafzimmer«, sagte Ray, als er die Tür aufschloss. »Aber nur ein Badezimmer. Zum Frühstücken gehen wir zu meinen Eltern. Nach dir.«
Sie trat vor ihm in ein winziges Häuschen mit niedriger Decke. Es roch leicht nach alter Asche und alten Büchern, und Ray machte sich sofort daran, ein Kaminfeuer anzuzünden. Ein Bücherregal nahm eine ganze Wand ein, und vor dem Kamin stand ein großes Sofa.
»Im Schrank da drüben ist eine Flasche Portwein.« Er deutete mit der Schulter darauf. »Trinkst du ein Glas mit?«
»Natürlich.« Sie holte die Flasche, goss zwei Gläser ein, und
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