Der Wind der Erinnerung
ich hob das Handtuch auf. »Stimmt was nicht?«
Ja.
»Nein. Ich glaube nicht.«
»Hat es mit Sarah und mir zu tun? Du kannst dich darauf verlassen, dass es vorbei ist.«
»Aber wann hat es angefangen? Nein, sag es mir lieber nicht.«
Er konnte mir nicht in die Augen sehen. »Es tut mir leid, Emma, aber ich hoffe, dass wir die Vergangenheit hinter uns lassen können. Ich habe dich so vermisst. Du bist einfach die Richtige für mich.«
»Dann gib mir ein paar Tage Zeit, um mich zurechtzufinden.«
»Möchtest du heute Nacht im Gästezimmer schlafen?«
»Das wäre am besten.«
Nachts um zwei war ich hellwach und schaute Kabelfernsehen, bis Josh aufstand.
»Ich hätte dir doch Gesellschaft geleistet«, sagte er und küsste mich knapp unter dem rechten Ohr. Er roch göttlich.
»Es hat doch keinen Sinn, wenn wir beide müde sind.«
Er schaltete gähnend die Kaffeemaschine ein. »Was hast du heute vor?«
»Ich dachte, ich versuche mal, ein paar alte Freundinnen anzurufen.«
»Vom Ballett?«
»Mal sehen. Falls es mich nicht zu sehr deprimiert.«
Er setzte sich zu mir und schob langsam das Bein meiner Pyjamahose hoch, bis er mein vernarbtes Knie sehen konnte. »Es tut mir so leid.« Er fuhr mit dem Daumen über die Operationsnarben.
»Es war schwer. Sehr schwer.«
»Du wirst nicht mehr tanzen?«
Ich schüttelte den Kopf. Ein Zeichentrickfilm für Kinder hatte angefangen, und ich schaltete den Fernseher aus.
Er zog das Hosenbein sanft herunter. »Ich versuche, früh Feierabend zu machen. Lass dein Handy eingeschaltet. Wir können uns irgendwo zum Abendessen treffen, genau wie früher.«
Wir verabschiedeten uns, und er ging hinaus in den nebligen Morgen. Ich kehrte auf die Couch zurück und fragte mich, was Patrick wohl gerade machte. Hör auf, sagte ich mir. Ich würde nicht in London herumsitzen und an Wildflower Hill denken, so wie ich auf Wildflower Hill gesessen und an London gedacht hatte. Meine Entscheidung war gefallen.
Ich hatte ihn natürlich angerufen. Sofort nachdem ich den Flug gebucht hatte, hatte ich Patrick Bescheid gesagt, dass ich auf unbestimmte Zeit nach London zurückkehren würde, und ihm viel Glück beim Auftritt gewünscht.
»Mina wird enttäuscht sein«, hatte er gesagt. Ich war wütend gewesen, weil es das Einzige war, mit dem er mir ein schlechtes Gewissen machen konnte. Doch er hatte mich nicht gebeten zu bleiben oder mir spontan sein Liebe gestanden. Was hätte ich in diesem Fall wohl gemacht?
Der Nebel hatte sich vom Fluss gehoben und enthüllte einen klaren Herbstmorgen. Ich wühlte in meinem Koffer nach meinem alten Adressbuch, weil ich meine Freundinnen anrufen wollte. Freundinnen war vielleicht zu viel gesagt, alte Bekannte, Leute, denen ich Kusshände zugeworfen und versprochen hatte, irgendwann anzurufen.
Erster Versuch: Anrufbeantworter.
Zweiter Versuch: Endloses Klingeln.
Dritter Versuch: Kein Anschluss unter dieser Nummer.
Ich gab nicht auf, fest entschlossen, jemanden zu erreichen.
Vierter Versuch: ein menschliches Wesen.
»Hallo, ist Miranda da?« Ich merkte, wie verzweifelt ich klang.
»Am Apparat.«
»Hi, hier ist Emma Blaxland-Hunter.«
Kurze Pause. »Emma?«
»Ich weiß, ich weiß. Es ist lange her.«
»Ich dachte, du wärst nach Australien gezogen.«
»Ich war eine Weile da, aber jetzt bin ich zurück. Ich würde dich gern mal treffen.«
»Sicher, aber heute Nachmittag geht mein Flug in die Schweiz, eine Saison
Feuervogel.
Ich komme erst Heiligabend zurück.«
Einen Moment lang war ich sprachlos. So hatte auch mein Leben einmal ausgesehen. Ich war herumgereist, in immer neuen Theatern in immer neuen Städten aufgetreten, kostümiert und geschminkt, auf der Bühne im grellen Scheinwerferlicht, meinen Körper ganz der Musik hingegeben.
»Vielleicht rufe ich dich dann an«, stieß ich hervor.
Ich arbeitete mich durch das Adressbuch, fand eine weitere Miranda und fragte mich, mit welcher ich vorhin gesprochen hatte. Seufzend steckte ich das Buch weg. Ich wusste, Adelaide würde im Probenstudio sein, um den fliegenden Faschisten zu betreuen. Wenigstens sie würde sich freuen, mich zu sehen. Es war an der Zeit, den Pyjama auszuziehen und das Leben zu genießen, das ich mir so sehr zurückgewünscht hatte.
Am Abend des Unfalls war ich zuletzt im Studio gewesen. Der Geruch nach Haarspray, Glasreiniger und Schweiß war schier überwältigend. Ich sprach kurz mit der Empfangsdame und ging dann über die bewusste Treppe nach oben, um Adelaide zu
Weitere Kostenlose Bücher