Der Wind der Erinnerung
hätte ich laut gelacht, doch das ging in einer Bibliothek ja nicht. Also saß ich mit einem dämlichen Grinsen da. Hatte Grandma Wildflower Hill tatsächlich beim Pokern gewonnen? Soweit ich wusste, hatte sie von Glücksspiel nie etwas gehalten. Konnte es wahr sein? Immerhin hatte sie die Farm geschenkt bekommen.
Am liebsten hätte ich meine Mutter angerufen und es ihr erzählt, doch dann hätte ich verraten, dass ich in London war, was ihr gar nicht gefallen würde.
Stattdessen erkundigte ich mich, ob ich die Seite kopieren durfte, und nahm sie mit in die Wohnung, wo ich auf Josh wartete.
Meine innere Uhr war völlig aus dem Rhythmus. Tagsüber konnte ich die Augen nicht offen halten und war vor der Morgendämmerung schon hellwach. Josh küsste mich jeden Morgen, bevor er zur Arbeit ging, doch im Laufe der Woche verlor er allmählich die Geduld mit mir. Ich schmolz nicht dahin, wenn er mich umarmte, wollte keinen Sex mit ihm und schob ihn weg, wenn er mir zu nahe kam. Er fragte mich ständig, was denn los sei, doch ich konnte es ihm nicht sagen, weil ich es selbst nicht wusste.
Am Freitagmorgen wurde ich wieder früh wach. Es dauerte einen Augenblick, bis ich wusste, wo ich war. Ich erwartete Vogelgezwitscher. Doch dann öffnete ich die Augen und war nicht auf Wildflower Hill. Ich befand mich in einer Wohnung mit Dienstbotenservice in London, und nur die Heizung summte leise. Ich war niedergeschlagen, ich wollte Vögel.
Ich war so weit von zu Hause weg.
Ich stand auf, zog meinen Bademantel an und ging leise hinüber zu Josh. Wärme und Trost wollte ich haben und zögerte dennoch. Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, während ich dort stand, und ich sah die Umrisse seiner muskulösen Schulter. Er war genauso hinreißend wie in meiner Erinnerung, doch kam es mir vor, als beobachtete ich ihn in einem Film. Er gehörte nicht richtig in mein Leben. Tränen brannten in meinen Augen. Ich hatte alles vermasselt. Menschen im Stich gelassen. Und nun beschlich mich der Verdacht, dass ich einer leeren Phantasie um die halbe Welt nachgejagt war.
Ich überlegte, wie spät es jetzt in Australien war. Halb vier nachmittags. Bald würde Patrick nach Hause kommen. Ich fragte mich, wie die Vorbereitungen für den Auftritt liefen. Vielleicht konnte ich ihnen Geld spenden und für Mina Blumen über das Internet bestellen. Ich verspürte den verzweifelten Drang, Kontakt zu ihm aufzunehmen.
Also ließ ich Josh schlafen und ging in die Küche. Ich schaltete blinzelnd das Licht ein und griff zum Telefon. Nebel waberte vor den Fenstern. Es würde erst in mehreren Stunden hell, wenn überhaupt. Doch dort, wo das Telefon klingelte, wäre es strahlender Nachmittag.
Monica meldete sich beim zweiten Klingeln. »Hallo?«
»Hi, Monica, hier ist Emma.«
Eisige Stille.
»Ist Patrick zu Hause?«
»Noch nicht.«
»Schon gut, ich wollte ohnehin mit dir sprechen. Ich muss mich bei dir entschuldigen.«
»Nein, musst du nicht.«
Ich zögerte.
»Du schuldest Patrick eine Entschuldigung. Und Mina. Und Marlon. Und den übrigen Hollyhocks. Aber mir schuldest du gar nichts, und ich würde es ohnehin nicht annehmen.«
Mir war fast übel vor Scham. »Ich verstehe, dass du wütend bist. Aber ich habe Patrick gesagt, dass ich weggehe, und er hat es verstanden.«
»Ach ja? Ich nämlich nicht. Du hast versprochen, beim Auftritt zu helfen, und dich drei Wochen vor dem großen Tag nach England verpisst.«
»Die Sache ist etwas komplizierter. Ich habe London unter schwierigen Umständen verlassen. Ich wollte immer hierher zurück.«
»Das war nicht zu übersehen«, warf sie ein. »Unsere kleine Stadt war eben nicht gut genug für dich.«
»Das stimmt nicht«, widersprach ich, doch natürlich stimmte es. Zumindest hatte ich es geglaubt. »Ich erwarte nicht, dass du es verstehst, aber ich wollte niemandem weh tun.«
»Mich interessiert nicht, was du wolltest, Emma. Jedenfalls hast du vielen Leuten weh getan. Ich lege jetzt lieber auf, bevor Patrick kommt, er soll nicht erfahren, dass du angerufen hast. Und ich wäre dir dankbar, wenn du ihn selbst auch nicht anrufen würdest.«
»Wieso nicht?«
»Weil er Zeit braucht, um über dich hinwegzukommen. Was immer du tun musst, um dein schlechtes Gewissen zu beschwichtigen, bleib weg von meinem Bruder.« Ihre Stimme klang dunkel und leidenschaftlich. »Er hat nur das Allerbeste verdient, und dazu gehörst du nicht.«
Sie hängte ein, und ich schaute auf das Telefon, die Kehle wie
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