Der Wind der Erinnerung
Lucy. Sie hörte zu, als er ihr den Weg nach Lewinford beschrieb, und machte sich schicksalsergeben auf den Weg.
Nach einer halben Stunde bemerkte sie die ersten dunklen Wolken am Horizont. Eine weitere halbe Stunde später – Lucy jammerte schon, sie könne keinen Schritt mehr laufen – erklang das erste Donnergrollen.
Ihr Herz hatte an diesem Tag schon so viel erduldet – Furcht, Hoffnung, Ungewissheit –, dass es unter dieser neuen Angst beinahe aussetzte. Sie liefen eine Landstraße mitten im Nirgendwo entlang, und nun drohte auch noch ein Gewitter. Sie blieb kurz stehen, und Lucy ließ sich dankbar am Straßenrand nieder. Der Schweiß lief ihr unter der Bluse am Körper hinab.
Schutz. Das war jetzt am wichtigsten. Es war nicht sicher, sich bei Gewitter unter einen Baum zu stellen, also musste sie ein Haus, einen Schuppen,
irgendetwas
mit einem Dach finden. Sie drehte sich langsam im Kreis. Nach Osten sah man meilenweit nur dichtes Gebüsch, doch im Westen breiteten sich Felder aus, die mit niedrigem Stacheldraht umzäunt waren, und hohe Pappeln, zwischen deren Ästen Stare umhersegelten. Ackerland. Wo Ackerland war, gab es auch Häuser.
»Mummy? Ich bin müde.«
»Ich weiß.« Beattie schaute zum Himmel empor. Die Gewitterfront bewegte sich schnell, doch noch gab es keinen Regen oder Wind. »Wir gehen über das Feld dort drüben und suchen uns eine Stelle, an der wir ausruhen können.«
Lucy nickte und rappelte sich auf.
»Braves Mädchen«, sagte Beattie und führte sie zum Zaun. »Jetzt musst du dich auf den Bauch legen und darunter durchkriechen. Gut aufpassen.« Beattie hielt den Stacheldraht hoch, damit sich Lucy nicht in den Stacheln verfing. »Wie eine Schlange. Gut so.«
Beattie schob den Pappkarton hinterher, wohl wissend, dass sie selbst nie hindurchpassen würde. Also versuchte sie, die mittleren Stränge auseinanderzudrücken, um hindurchzusteigen. Dabei zerkratzte sie sich den Unterschenkel. Es brannte.
»Mummy, du blutest ja.«
Sie drückte den Rock gegen die Wunde, die bald aufhörte zu bluten. »Das ist nicht schlimm. Na los, gleich kommt ein Gewitter.« In diesem Augenblick kam Wind auf.
Sie gingen einen Hügel hinauf, von wo aus Beattie meilenweit nur Ackerland sehen konnte. Grüne, sanft geschwungene Hügel, markiert mit einzelnen flachen Steinen. Hier und da ein einsamer Eukalyptusbaum, lebendig oder weiß und abgestorben, der Krähen eine Heimstatt bot. Aber es war kein Haus zu sehen. Sie sah auch keine Kühe oder Schafe. Vermutlich war die Farm größer, als sie erwartet hatte, oder nicht mehr in Betrieb. In der Ferne entdeckte sie jedoch ein kleines weißes Gebäude. Ein Schuppen. Das Donnergrollen kam näher, und kühle Dunkelheit legte sich über das Land.
Sie nahm Lucy auf den Arm und eilte hügelabwärts. Als sie das Feld überquerten, spürten sie die ersten Regentropfen.
Bloß nicht nass werden.
Als sie sich dem Schuppen näherten, sah sie, dass das halbe Dach fehlte. Eine Tür gab es auch nicht. Sie verlor den Mut.
Ein gezackter Blitz zuckte über den Himmel. Der Schuppen war ihre einzige Hoffnung.
Als sie ihn erreichten, brach der Regen richtig los. Die Bodenbretter waren fleckig und verzogen, aber wenn sie sich in die hinterste Ecke setzten, würden sie trocken bleiben. Beattie nahm Lucy auf den Schoß und zwang sich, die Muskeln zu entspannen. Das Kind roch immer noch leicht nach Erbrochenem. Das Gewitter zog über sie hinweg, der feuchte Wind ließ den Schweiß auf ihren Körpern eiskalt werden. Blitz und Donner folgten rasch aufeinander, dann öffnete der Himmel seine Schleusen. Lucy begann leise zu weinen und nach Henry zu rufen. Beattie weinte mit ihr. Sie weinte auch um Henry, um den Mann, den sie in ihm gesehen hatte, der er aber nicht gewesen war. Sie weinte wegen ihrer Einsamkeit, der Trennung von ihrer Familie und dem Leben, wie sie es früher gekannt hatte. Und sie weinte um ihre Tochter, ihre wunderschöne Tochter, die alles erdenklich Gute im Leben verdiente und in Armut und Ungewissheit lebte, die weit entfernt von zu Hause zitternd ein Gewitter durchstehen musste.
Der Regen hörte nicht auf. Eine Stunde oder noch länger strömte es herab, bis der Boden des Schuppens überflutet war und sie aufstehen mussten. Das Wasser lief ihnen in die Schuhe. Lucy klammerte sich an Beatties Rock, während diese überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. Sie konnten hier nicht die Nacht verbringen, es war viel zu nass. Und Lewinford war noch immer mehrere
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