Der Wind der Erinnerung
er Bus rollte knatternd am schwarzen Wasser entlang und weiter bergauf durch Kleinstädte und Ackerland. Das Grün war hier anders als in Schottland: stumpfer und heller. Doch die Sonne schien strahlender, und Beattie ließ sich davon ein bisschen aufmuntern. Doris hatte ihr eine Wegbeschreibung mitgegeben. Sie musste in New Norfolk aussteigen und einen anderen Bus nehmen, der sie nach Nordwesten brachte. In einer winzigen Ortschaft namens Bligh würde sie auf die altmodische Pferdekutsche nach Lewinford warten.
Das erste Umsteigen klappte problemlos, doch um die Mittagszeit erbrach sich Lucy über ihre Kleidung, weil sie so lange gefahren waren. Beattie säuberte sie notdürftig mit einem sauberen Hemd aus ihrem Karton, doch der Geruch war hartnäckig, und ihr wurde selbst allmählich flau.
Als sie in Bligh eintrafen, suchten sie nach der Haltestelle der Kutsche und warteten. Beattie hatte Sandwiches mit Honig mitgebracht, die sie sich am Straßenrand teilten.
Sie war dankbar für die Pause, auch wenn sie nur von kurzer Dauer war. Der Schlafmangel hatte alle Ereignisse des Tages in alptraumhafte, irreale Farben getaucht. Im Kopf wiederholte sie wieder und wieder den Satz: »Ich habe Henry verlassen, ich habe Henry verlassen«, doch sie konnte es immer noch nicht ganz glauben.
Für welches unsichere Leben hatte sie sich entschieden? Obwohl Doris ihr Mut zugesprochen hatte, wusste sie nicht, ob Margaret sie wirklich aufnehmen würde. Ob sie überhaupt zu Hause war. Wenn sie nun Verwandte besuchte? Oder verreist war?
»Mummy?« Lucys Stimme riss sie aus ihrer Grübelei.
»Ja, mein Schatz?«
Das Mädchen lehnte sich an sie. »Wo ist Daddy?«
»Bei der Arbeit.«
»Er hat heute nicht gefrühstückt.«
»Nein. Daddy … Wir werden ihn eine Zeitlang nicht sehen.«
Lucy schaute zu ihr auf. Die Sonne schimmerte auf ihrem roten Haar. »Wieso nicht?« Schon hatte sie Tränen in den Augen.
Beattie dachte darüber nach. Wie sollte sie einer Vierjährigen die Situation erklären? »Daddy ist krank. Die Krankheit kann uns auch schaden.«
»Aber ich habe Daddy lieb.« Wie zum Beweis hielt sie Beattie ihre Henrietta hin.
»Daddy hat dich auch lieb. Aber er kann sich jetzt nicht um uns kümmern. Also müssen wir weggehen und für uns selbst sorgen.«
Nun weinte Lucy wirklich. »Er wird uns vermissen.«
Beattie kniete sich hin und umarmte das kleine Mädchen. »Er vermisst dich. Das weiß ich.«
Irgendwann wurde Lucy das Weinen leid und setzte sich ins Gras. Beattie lief auf und ab und hielt Ausschau nach der Kutsche. Eigentlich hätte sie schon vor einer Stunde kommen müssen. Wieder und wieder las sie Doris’ Zettel. Ja, sie war an der richtigen Stelle, unter dem Ortsschild, Richtung Nordwesten, hundert Meter vom Pub entfernt. Sie spielte mit dem Gedanken, drinnen nach der Kutsche zu fragen, hatte aber Angst, dass sie in diesem Augenblick ankommen könnte. Es war warm und stickig. Sie hatte dafür gesorgt, dass Lucy im Schatten saß. In der Ferne hörte sie einen Bach über Felsen plätschern. Wie gern wäre sie hingegangen und hätte etwas getrunken, aber das war nicht möglich. Sie wartete und wartete, bis gewiss eine weitere Stunde vergangen war und sie sicher sein konnte, dass die Kutsche nicht mehr kam. Ihr wurde angst und bange. Was sollte sie jetzt machen?
»Komm, Lucy.« Sie hob das Mädchen hoch, das niedergeschlagen im Gras hockte. »Ich muss in dem Pub da drüben nach der Kutsche fragen.«
Lucy rappelte sich auf und nahm ihre Hand. Sie gingen zusammen in das kühle Pub, wobei sich Beattie wiederholt umsah. An der Theke saßen fünf oder sechs Männer, die neugierig die Frau mit dem kleinen Mädchen anschauten. Es roch, als hätte das Bier die Dielenbretter durchtränkt.
»Keine Damen erlaubt, meine Liebe«, sagte der Barkeeper freundlich.
»Ich wüsste nur gern … was mit der Kutsche nach Lewinford ist.«
»Ach, der alte Frank. Elender Mistkerl. Der fährt nicht an stürmischen Tagen; er hat Angst, der Donner könnte die Pferde erschrecken.«
»Stürmisch?« Das Wetter war heiß und klar.
»Wir haben ein Zimmer, falls Sie über Nacht bleiben müssen.«
»Nein, ich …« Sie hatte kein Geld, nur den Penny für die Kutsche. Aber die Kutsche kam nicht. »Ist es weit zu laufen?«
Er kniff die Augen zusammen und überlegte. »Hm, vielleicht drei Stunden. Mit der Kleinen sind Sie langsamer. Kann ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?«
Dankbar nahm Beattie das Wasser entgegen und teilte es sich mit
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