Der Wind der Erinnerung
ersten Schritt getan.
Die Nachbarin blickte neugierig hoch. Seit Lucy versucht hatte, die Maus zu stehlen, hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt. »Ja, meine Liebe?«
Beattie räusperte sich und versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Würden Sie … auf eine Tasse Tee herüberkommen?«
Doris lächelte. »Das würde ich gern, aber ich muss noch einiges …«
»Kommen Sie bitte jetzt«, sagte Beattie. »Es tut mir leid, ich kann nicht länger warten.«
Die ältere Frau nickte, hängte den Teppich über das hölzerne Geländer und kam herüber. Beatties Herz hämmerte, als sie Doris hereinließ. Sie zwang sich, ruhig zu atmen. Dies war nur der erste Schritt. Heute musste sie noch viel mehr durchstehen.
»Kommen Sie doch in die Küche. Leider habe ich das Frühstücksgeschirr noch nicht weggeräumt.« Sie hob Lucy von ihrem Stuhl und schickte sie mit Henrietta spielen. Als sie allein waren, warf Beattie einen Penny in den Gaszähler und setzte den Wasserkessel auf den Herd.
»Alles in Ordnung, meine Liebe?«, fragte Doris, die argwöhnisch stehen geblieben war.
»Setzen Sie sich bitte. Leider kann ich heute Morgen nicht klar denken.«
Doris nahm Platz und sah sich um. Beattie versuchte, die Küche aus ihrer Perspektive zu betrachten. Die schäbigen Wände, die umgedrehten Obstkisten, die als zusätzliche Sitzgelegenheiten dienten, den ganzen kahlen Raum. Doris’ Küche war grün gestrichen, auf dem Schrank standen Porzellandosen mit Zucker, Mehl, Gewürzen, Reis, sogar Keksen. Sie fragte sich, ob Doris geahnt hatte, wie arm sie waren.
Beattie bereitete mechanisch den Tee zu, als schaute sie sich selbst dabei zu. Dann setzte sie sich zu Doris und lächelte schwach. »Können Sie mir helfen? Ich bin in Schwierigkeiten.«
»Geld kann ich Ihnen nicht geben«, sagte Doris rasch.
Beattie schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht. Ich möchte etwas über Ihre Cousine, die Näherin, wissen.«
»Margaret?« Doris’ Gesicht wurde weich. »Sie wohnt weit weg.«
»Ich möchte weit weg sein.«
»Verstehe. Weiß Ihr Mann davon?«
Beattie schluckte schwer und zwang sich, die Worte auszusprechen, die ihr noch nie über die Lippen gekommen waren. »Er trinkt und spielt. Er ist jähzornig. Er hat mir verboten, mich mit Leuten anzufreunden und sogar meinen eigenen Eltern zu schreiben. Ich habe Angst, dass er mir und meinem Kind weh tun könnte.«
Doris nickte. »Dann werde ich Ihnen helfen. Margaret nimmt Sie bei sich auf, dann können Sie für die Unterkunft arbeiten.«
»Wird sie das wirklich tun? Mich und mein Mädchen?«
»Margaret ist eine gute Christin, und sie hat im Augenblick niemanden, der ihr hilft. Sie könnte Unterstützung gebrauchen, hat aber nicht viel Geld. Sie wird freundlich zu Ihnen sein.«
Aus irgendeinem Grund brach Beattie beim Wort »freundlich« in Tränen aus. Unfreundlichkeit war zu lange ihr täglicher Begleiter gewesen.
»Schon gut«, sagte Doris und tätschelte ihre Hand. »Das wird schon, Kind. Sie treffen die richtige Entscheidung. Wenn er sieht, dass Sie weg sind und das Mädchen mitgenommen haben, wird er seine Fehler erkennen und ins Licht des Herrn treten. Dann können Sie wiedervereint werden.«
Beattie schwieg. Sie wollte Henry nicht zurück, niemals. »Sie sagen ihm doch nicht, wo ich bin?«
»Mein Ehrenwort. Ich werde keinem gewalttätigen Trinker helfen.« Sie rieb Beatties Arm. »Na los, packen Sie. Ich gebe Ihnen drei Pence für den Bus.«
Binnen einer Stunde war Beattie bereit, um in die Stadt zur Bushaltestelle zu gehen. Sie trug ihre jämmerlichen Habseligkeiten in einem Pappkarton bei sich; die Koffer, die sie aus Schottland mitgebracht hatte, waren längst verkauft. Sie hatte auch ein Foto von Henry, Lucy und sich selbst eingepackt, fragte sich aber, ob Lucy ihren Vater nicht besser vergäße. Beattie wusste nicht mehr, wie sie mit vier Jahren gelebt hatte; womöglich war es gnädiger, wenn sie die Kleine nicht an ihren Vater erinnerte. Lucy, die ihre neue Puppe unter dem Arm trug, fragte wiederholt, wohin sie gingen und was sie vorhätten. Beattie brachte sie zum Schweigen, indem sie von einem Abenteuer sprach und meinte, dass sie ihr alles erklären würde, wenn sie am Ziel aus dem Bus stiegen.
Doris wartete an der Tür und blickte sie eindringlich an.
Du tust das Richtige.
Beattie versuchte, ihren Körper zu stählen, ihn härter zu machen. Sie griff nach Lucys Hand und schloss die Tür des Häuschens, ohne noch einmal zurückzublicken.
[home]
Zehn
D
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