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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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holen. Der Mann war schon auf ihrer Seite des Damms. Er hielt sie am Oberarm fest und führte sie durchs Wasser. Sie rannte zu Lucy, die sich dankbar und verzweifelt an sie schmiegte. Sie schluchzte, und Beattie wiegte sie hin und her, während ihr eigener Herzschlag wieder ruhiger wurde.
    Dann wandte sie sich dem Mann zu. Er hatte das Hemd wieder angezogen, aber noch nicht zugeknöpft.
    »Wie soll ich Ihnen jemals genug danken?«
    Er zuckte mit den Schultern. »Was sollte ich denn sonst tun, Missus? Das kleine Mädchen ertrinken lassen?«
    Sie lächelte und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich heiße Beattie. Und das ist Lucy.«
    Er drückte ihre Hand und ließ sie wieder los. Seine Haut war sehr warm.
    Lucy blickte hoch, an ihren Wimpern hingen noch Wassertropfen. »Wie heißt du?«
    »Charlie.«
    »Sie haben ihr das Leben gerettet.«
    »Ich habe Sie aus einiger Entfernung beobachtet«, sagte er. »Ich wollte Sie warnen, als ich sah, dass die Kleine Ihnen folgte.«
    Beattie drückte Lucy fest an sich. »Ich hätte wissen müssen, dass sie nicht auf mich hört.« Dann betrachtete sie Charlie im Licht des späten Nachmittags. Er hatte dunkles, lockiges Haar und fast schwarze Augen. Allmählich wurde ihr klar, dass er ein Aborigine sein musste. Sie hatte noch nie einen gesehen. Sein Alter war schwer einzuschätzen, vielleicht ein paar Jahre jünger als sie. Er hatte etwas Jungenhaftes mit den ungezähmten Locken, den langen Wimpern und dem glattrasierten Kinn. Als sie bemerkte, dass sie ihn anstarrte, schaute sie weg.
    »Wohin wollen Sie?«, fragte er und knöpfte sein Hemd zu.
    »Nach Lewinford. Wir sind den ganzen Weg von Bligh gelaufen. Die Kutsche ist nicht gekommen.«
    »Er fährt nie bei Gewitter.« Charlie setzte den Hut wieder auf. »Ich komme gerade aus Lewinford«, bemerkte er argwöhnisch. »Haben Sie Freunde dort?«
    »Ja und nein. Wir wollen zu Margaret Day. Ihre Cousine hat gesagt, sie könnte uns vielleicht aufnehmen.«
    »Sicher, Mrs. Day wird Sie aufnehmen. Keine Sorge.«
    »Ist sie … nett?«
    Charlie zuckte mit den Schultern. »Nicht zu mir.« Er lachte. »Aber sie ist nett. Soll ich Sie hinbringen? Auf Sie achtgeben?«
    Eigentlich wäre ihr das sehr lieb gewesen. »Ich möchte Ihnen nicht zu viel Mühe machen.«
    Er schüttelte den Kopf. »Missus, Sie sind durchnässt, und Ihre Kleine friert und hat Angst. Wenn Sie nichts gegen einen schwarzen Kerl haben, helfe ich Ihnen.«
    »Einen schwarzen … Nein, natürlich habe ich nichts gegen Sie. Sie haben ihr das Leben gerettet.« Beattie lächelte zaghaft. »Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie uns mitnähmen.«
    Charlie beugte sich vor und lächelte Lucy an. »Soll ich dich huckepack tragen?«
    Sie schmollte und schüttelte den Kopf, doch Charlie hob sie auf und setzte sie auf seinen Rücken. »Na los.«
    Dankbar legte Lucy die Arme um seinen Hals. Beattie griff nach ihrem Pappkarton mit den durchnässten Kleidern, und sie gingen los. Der Schlamm schwappte in ihren Schuhen.
    »Ich muss schon sagen, Sie haben da einen schicken Akzent, Missus.«
    »Nennen Sie mich bitte Beattie. Ich bin halb schottisch.«
    »Schottland, das ist weit weg. Da sind Sie noch weiter von zu Hause weg als ich.«
    »Woher kommen Sie?« Er ging sehr schnell, sie konnte nur mühsam Schritt halten.
    »Ich? Ich komme vom Golf. Oben in Australien. Habe mich bis unten durchgearbeitet. Ziehe als Nächstes vielleicht nach Westen. Oder ich bleibe eine Weile. Mir gefällt das sanfte Licht hier unten.«
    »Sind Sie ein Aborigine?« Sie wusste nicht, ob die Frage unhöflich war, da sie noch nie jemanden gesehen hatte, der nicht weiß war.
    »Ja. Meine Mum war jedenfalls eine. Mein Dad war irgendein weißer Kerl, ist durchgebrannt. Alte Geschichte.«
    »Haben Sie ihn nie kennengelernt?«
    Er schwieg einen Moment. »Alte Geschichte. Ich denke nie darüber nach. Ich habe keine Eltern. Bin ganz allein auf der Welt und passe auf mich auf.« Dann aber huschte ein trauriger Ausdruck über sein Gesicht, und sie erkannte plötzlich, dass er älter war als sie. Bestimmt zehn Jahre älter.
    Schließlich gelangten sie zu einem weißen Schild, auf dem
Lewinford
stand. Zum ersten Mal an diesem Tag war Beattie erleichtert. Endlich hatten sie es geschafft.
    Hinter dem Schild bog die Straße nach links ab, und Beattie konnte Reihen von Häusern, Markisen von Läden, Autos und Karren auf der ungepflasterten Straße sehen.
    »Sie müssen da entlang«, sagte Charlie und deutete auf die Stadt. »Mrs. Day

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