Der Wind der Erinnerung
war so lange geschlossen gewesen, dass es sich nur unter lautem Quietschen öffnen ließ. Der Wind wehte herein und wirbelte Staub auf. Ich musste heftig niesen und ging ins Zimmer gegenüber.
Vielleicht war es einmal ein Wohnzimmer gewesen, dort standen ein Sofa und ein Klavier. Doch auch hier war alles mit Kartons vollgepackt, die im Laufe der Jahre eingesunken und aufgeplatzt waren. Daneben standen Plastikkisten aus jüngerer Zeit. Ich öffnete aufs Geratewohl einen Deckel. Papiere, Bücher, Geburtstagskarten … Mein Herz machte einen Sprung. Diese Karte hatte ich meiner Grandma als Kind geschickt. Vorn waren Iris abgebildet, auf der Rückseite meine kindliche Handschrift:
Liebe Nana Beattie, alles Gute zum Geburtstag, ich liebe dich, Emma.
Tränen. Woher waren sie gekommen? Ich legte die Karte zurück in die Kiste und wischte sie weg. Es war ein furchtbarer Schock gewesen, als Mum angerufen und mir gesagt hatte, dass Grandma gestorben war. Obwohl sie schon über neunzig gewesen war, hatte ich meine Großmutter als unverwüstlich empfunden. Als unsterblich. Sie war so stark. Ich hatte fest geglaubt, sie noch einmal wiederzusehen.
Tränen und Staub brachten mich zum Niesen. Ich öffnete weitere Fenster und die Türen zum Hof, ging in die Küche, um auch dort Licht und Luft hereinzulassen.
Dann wappnete ich mich für die nächste Aufgabe: Das Treppensteigen fiel mir allmählich leichter, machte mich aber immer noch nervös. Ich setzte einen Fuß vor den anderen und hielt mich am staubigen Geländer fest. Als ich es geschafft hatte, blieb ich stehen, um dem Gelenk ein bisschen Ruhe zu gönnen. Ich spürte ein dumpfes Pochen im Knie. Der Teppichboden ließ das Haus hier oben noch stickiger erscheinen. Ich ging von einem Zimmer ins nächste, öffnete Vorhänge und Fenster, ließ Luft herein und staunte, wie viele Kartons mit Dingen Beattie besessen hatte. Eigentlich hatte sie vor ihrem Tod jahrzehntelang nicht mehr auf Wildflower Hill gelebt, offenbar aber alles dort gelagert, was sie nicht mehr brauchte. Vielleicht wollte sie eines Tages zurückkehren und die Sachen aussortieren. Oder sie hatte gedacht: aus den Augen, aus dem Sinn.
Der letzte Raum war das große Schlafzimmer. Der Teppich war verschlissen, die gemusterte Tapete verblichen, doch er wirkte geräumig und sonnig. Durchs Fenster sah man die Äste des großen Baums, um den sich der Fahrer so gesorgt hatte. Hinter der Koppel standen ein hölzernes Häuschen, ein alter offener Schuppen und die zerfallenen Überreste eines Stalls. Dahinter lagen Felder, die sich wellig in die Ferne erstreckten. Es war vollkommen still, nur das Laub raschelte leise im Wind. Als dieser sich legte, hörte ich nur noch den Schlag meines Herzens. Schon vor langer Zeit hatte Beattie das ganze Land, bis auf fünf Morgen, wie auch den gesamten Viehbestand verkauft. Früher waren es zweitausend Morgen gewesen, eine blühende Farm. Ich konnte mir diese Fläche gar nicht vorstellen, geschweige denn die Arbeit, die damit verbunden war. Grandma hatte auf mich immer wie eine elegante Dame gewirkt, die mehr an Entwürfen und Stoffen interessiert war als am Leben auf einer Farm.
Ich zog die Abdeckungen von den Möbeln. Ein eisernes Bettgestell, ein Eichenschrank mit angelaufenem Spiegel, Nachttische, ein Regal mit alten Taschenbüchern, eine Wäschetruhe aus Kampferholz. Ich öffnete den Schrank, der Geruch nach Mottenkugeln war überwältigend.
Ich schloss die Zimmertür hinter mir und nahm mir fest vor, diesen Raum nicht zu benutzen. Das sähe sonst aus, als würde ich mich für längere Zeit einrichten. Es wäre einfacher, eines der kleinen Zimmer zu reinigen und drei Wochen lang aus dem Koffer zu leben. Ich entschied mich für eins auf der Westseite des Hauses, dann hätte ich es morgens kühl und dunkel. Als ich die Fenster öffnete und die Abdeckungen ausschüttelte, erschien mir die Aufgabe geradezu überwältigend. Putzen. Aussortieren. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Ich hatte damit gerechnet, einige Kisten auszupacken und den Inhalt größtenteils auf den Müll zu werfen. Dann würde ich alles ein bisschen auf Vordermann bringen und das Haus den Maklern übergeben. Kein Problem. Doch das alles hier würde weder einfach noch schnell über die Bühne gehen. Wenn ich körperlich fitter wäre … nun, dann wäre ich überhaupt nicht hier.
Ein lautes Klopfen und ein freundlicher Ruf von der Haustür rissen mich rechtzeitig aus meinem Selbstmitleid. Besucher? Jetzt schon?
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