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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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gelassen hatte, um das Haus zu lüften. Zuerst lag ich nur im Bett und horchte. Es regnete nicht stark, ich musste nicht befürchten, dass sich in den Zimmern Pfützen bilden würden. Dann aber wurde der Regen stärker, der Wind frischte auf, und mir blieb nichts anderes übrig, als aufzustehen. Und mich der Treppe zu stellen.
    Ich schaltete alle Lampen an, denn die Erinnerung an den Sturz verfolgte mich. Als ich unten ankam, überfiel mich ein alberner Stolz. Ich ging von einem Zimmer ins nächste, schloss die Fenster und sperrte den Staub wieder ein. Dann stieg ich die Treppe hoch und ging ins Bett.
    Allerdings war ich hellwach und konnte nicht mehr einschlafen.
    Ich starrte lange an die Decke, horchte auf den Regen, überlegte, wie spät es jetzt in London war und was Josh wohl gerade machte, wer im Ballettstudio probte, ob die Eiche vor unserer Wohnung schon das ganze Laub verloren hatte. Weil das zu sehr schmerzte, versuchte ich, eine Zeitlang an gar nichts zu denken. Mir wurde bewusst, dass es kühler wurde, und plötzlich war es nicht mehr gemütlich. Ich brauchte eine Decke.
    Also stand ich wieder auf und ging zur Wäschetruhe im großen Schlafzimmer.
    Ich öffnete den Deckel. Ein intensiver Geruch schlug mir entgegen. Ich holte gefaltete Bettlaken heraus und schüttelte sie aus. Sie waren alt und vergilbt. Eigentlich hatte es keinen Sinn, sie zu behalten. Das ganze Ding samt Inhalt konnte am Ende der Woche auf den Müll. Monica hatte gesagt, ihr Bruder Patrick könne kommen und bei den großen und schweren Sachen helfen.
    Ich fand weitere Bettlaken, aber keine Decke. Ganz unten entdeckte ich ein graues Exemplar, das so stark nach Mottenkugeln roch, dass mir die Augen tränten. Vielleicht sollte ich mir lieber eine zweite Schicht Kleidung anziehen. Ich wollte die Decke gerade zurücklegen, als mir ein altes Schulheft auffiel, das ganz unten in der Kiste lag. Ich blätterte es durch. Die Seiten waren leer. Als ich es gerade wieder hineinwerfen wollte, rutschte ein Foto heraus und landete auf den Bettlaken.
    Ich hob es auf. Es war schwarzweiß und hatte an der linken unteren Ecke einen Wasserfleck. Das Paar auf dem Foto war bescheiden, aber sauber gekleidet. Er trug einen Anzug, sie ein Kleid mit Hut und Handschuhen. Beide standen auf der Straße, und die Frau hielt ein Baby mit einem rüschenbesetzten Mützchen auf dem Arm.
    Ich musste zweimal hinsehen, bis ich sie erkannte. Die Frau war Grandma, kein Zweifel. Die runden Augen, die breiten Wangenknochen und das Lächeln, das ich von ihr geerbt hatte und das bei ihr toll, bei mir aber irgendwie blöd aussah.
    Doch wer war der Mann neben ihr? Jedenfalls nicht Grandpa, der viel größer und dünner gewesen war. Und was war mit dem Kind? Mum und Onkel Mike waren beide in den Fünfzigerjahren geboren, doch dieses Foto musste viel früher entstanden sein.
    Der Geruch der Mottenkugeln stach in der Nase. Ich legte die Wäsche zurück in die Kiste. Dann ging ich ins Badezimmer, um mir die Hände zu waschen, holte das Foto und nahm es mit ins Bett. Im Lampenlicht betrachtete ich es genauer. Der Mann hatte den Arm um Grandmas Taille gelegt, sie schienen ein Paar zu sein. Ein Paar mit Kind. Aber das musste ein Irrtum sein. Vielleicht war der Mann ein Cousin oder enger Freund der Familie. Wir wussten wenig über Grandmas Familie in Großbritannien. Ich schob das Foto in die Nachttischschublade und schaltete das Licht aus, um auf den Morgen zu warten.
     
    Irgendwann döste ich ein und träumte, ich wäre wieder in London, und die Wohnung war voller Vögel. Sie machten einen ohrenbetäubenden Lärm. Erstaunt wachte ich auf und stellte fest, dass das Kreischen und Zwitschern echt war. Noch nie hatte ich so viele Vogelstimmen gleichzeitig gehört. Ich stand auf, öffnete das Fenster und hörte verwundert zu, während die Luft von ihren morgendlichen Rufen, die aus den Bäumen hinter dem Haus erschollen, förmlich vibrierte. Wie war das mit dem ruhigen Landleben? Das hier war lauter als jeder Straßenverkehr.
    Der Traum von London hatte mich melancholisch gestimmt. Ich legte mich wieder ins Bett, kniff die Augen zu und versuchte, nicht an Josh zu denken. Ich fragte mich, ob er überhaupt von meiner Abreise wusste und dass meine Karriere in Scherben lag.
    Ich setzte mich auf. Natürlich wusste er es nicht. Die Zeitungen hatten zwar von meiner Verletzung berichtet, aber er hatte immer nur den Wirtschaftsteil gelesen.
Josh wusste es nicht.
Und wenn er es wüsste, hätte er

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