Der Wind der Erinnerung
bedeutete, wenn sich seine Pupillen, die sich so dunkel von der Iris abhoben, derart zusammenzogen. Raphael bluffte. Er wollte, dass sie ausstieg, damit er sie zu einem weiteren Spiel zwingen konnte.
Sie schob zehn Knöpfe nach vorn und dann noch fünf. Ihr ganzer Körper bebte, von Zweifeln geplagt.
Er machte ein langes Gesicht.
»Na los, lassen Sie mich sehen«, sagte sie.
Er deckte seine Karten auf. Es war ein Sammelsurium, offenbar hatte er auf einen Flush gehofft.
»Nein!« Er sprang auf wie ein verwöhntes Kind, wischte die Karten vom Tisch, dass sie wild durch die Luft flogen. »Nein! Nein! Nein!« Bei jedem Wort schlug er mit der Faust auf den Tisch. Leo kam dazu und wollte ihn beruhigen, doch das alles schien in unendlicher Ferne zu passieren. Beattie saß still und wie unter Schock da. Sie hatte es geschafft. Sie hatte
etwas getan.
Von nun an würde man ihr nie wieder Dinge antun.
Beattie stand auf einer Hügelkuppe, zehn Minuten vom Wohnhaus entfernt. Grüne Felder erstreckten sich wellenförmig in alle Richtungen, begrenzt vom dunkleren Grün der Eukalyptuswälder. Grüne Hügel, manche im Sonnenlicht, andere im trägen Schatten. Stille. Meilenweit Stille.
Und das alles gehörte ihr.
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Sechzehn
Emma: Tasmanien 2009
D er Fahrer des Wagens, den ich bestellt hatte, hörte einfach nicht auf zu reden. Ich wollte endlich hier raus und meine Beine bewegen. Vor einer Stunde waren wir am Flughafen losgefahren, und mein verletztes Knie fühlte sich völlig verkrampft an. Ich hatte versucht, es auf der Rückbank auszustrecken, saß aber so verdreht da, dass mir Rücken und Hüften weh taten.
Also nickte ich, gab ab und zu »hm« von mir und hoffte, dass die Fahrt bald vorbei war. Ich wollte mich irgendwo ausruhen. Schließlich bogen wir in den letzten Feldweg, fuhren zwischen steinernen Torpfosten hindurch und die Einfahrt hinauf.
Vor uns lag das Wohnhaus. Ich hatte es nur auf Fotos gesehen und nie damit gerechnet, es einmal zu besitzen. Der gealterte Sandstein, die Spitzbogenfenster, der überwucherte Garten. Sowie der Fahrer anhielt, platzte ich heraus: »Vielen Dank. Bitte«, und streckte ihm das Trinkgeld hin.
Er verstaute es, während ich die Tür öffnete und endlich die Beine ausstrecken konnte. Das tat gut. Ich stieg aus, holte tief Luft und atmete die frische Landluft ein. Vom Motorgeräusch abgesehen, war es vollkommen still. Der Fahrer holte mein Gepäck aus dem Kofferraum und schleppte es zur Haustür. Auf den grauen Steinplatten des Weges wuchsen Flechten.
Er deutete auf einen Baum, der an der Südseite des Hauses stand. »Opossums«, sagte er.
»Opossums?«
»Sie bringen ihn um.«
Ich besah mir den Baum, unter dem grau-weiße Zweige verstreut lagen. Überall wuchsen stachlige Lomandra.
»Die Opossums bringen ihn um?«
»Sie fressen die frischen Schösslinge. Sehen Sie, eine Seite stirbt ab. Sie müssen einen Baumexperten holen, der ihm einen Kragen anlegt.«
»Dem Opossum?«
»Dem Baum.«
»Ach so, verstehe.« Natürlich verstand ich es nicht. Eigentlich war es mir auch egal. Ich suchte in meiner Handtasche nach dem Schlüsselbund, den Mr. Hibberd mir gegeben hatte.
Ich habe Strom, Gas und Telefon wieder angemeldet. Aber es war niemand dort, seit Beattie gestorben ist,
hatte er gesagt.
Es dürfte ziemlich verstaubt sein. Brauchen Sie Hilfe beim Saubermachen?
Ich hatte abgelehnt. Ich wollte niemanden kennenlernen oder mich anfreunden; es war zu kompliziert. Also würde ich mir die Zeit mit Putzen vertreiben. Mein Rückflug ging in drei Wochen.
Nachdem der Wagen davongefahren und ich allein mit Sonnenlicht und Wind zurückgeblieben war, probierte ich die Schlüssel aus und öffnete behutsam die Haustür.
Vor mir sah ich den Holzboden eines langen Flures. Staubkörner tanzten im Licht. Im Hausinneren war es dämmrig und stickig. Meine Lungen zogen sich zusammen. Ich ließ die Tür hinter mir offen und die Koffer auf der Treppe stehen. Mit den klirrenden Schlüsseln in der Hand trat ich ein.
Vor mir befand sich eine Treppe, die ich mir später ansehen würde. Dann schloss ich eine Tür nach der anderen auf. Ein kleines Zimmer voller Kartons. Ein Esszimmer, in dem eine weiße Abdeckung vor langer Zeit auf den Boden gerutscht war. Ich fuhr mit den Fingern über den Esstisch. Die Staubschicht war dick. Meine Nase juckte. Im Esszimmer waren weitere Kartons fein säuberlich neben dem Kamin aufgereiht. Ich öffnete die Vorhänge und blickte auf Einfahrt und Tor. Das Fenster
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