Der Wind der Erinnerung
Problem. Ich suchte mir einen Teilzeitjob, und wir kamen gerade so über die Runden. Es war ganz schön hart. Ich arbeitete, wann immer ich konnte, und die Nachbarn holten Monica von der Schule ab, wenn ich an der Uni war. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie auf diese Weise aufwachsen musste, aber sie hatte schon ihre Eltern verloren, schlimmer konnte es wohl nicht werden. Es war ja nicht meine Schuld.«
»Natürlich nicht. Sie haben das ganz wunderbar gemacht. Monica ist eine reizende junge Frau.«
»Ich habe den Job an der Lewinford District High angenommen, als Monica noch dort zur Schule ging. Das machte es einfacher.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe mein Bestes getan.«
Ich versuchte mir vorzustellen, wie es für ihn gewesen sein musste. Keine Eskapaden als Teenager, keine Sauftouren mit Freunden. Er hatte gearbeitet und sich um seine kleine Schwester gekümmert. Das erklärte auch, weshalb er so ernst war.
Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was ich in meinem letzten Schuljahr getan hatte. Ich hatte die Highschool nicht geschafft, weil ich nicht aufpasste und mich allen überlegen fühlte. Ich war bereits an zwei Tanzschulen in den Vereinigten Staaten angenommen worden und wartete noch auf einen Bescheid aus London. Mum hatte gewollt, dass ich in Australien studierte, und wir gerieten immer wieder aneinander. Sie war zu dominant und ich zu eigensinnig. Es hatte einen Riesenstreit gegeben, vielleicht den schlimmsten meines Lebens. Ich hatte gesagt, dass ich sie hasste. Ich war ein Kind, das sich für eine Erwachsene hielt. Patrick hingegen hatte die Verantwortung eines Erwachsenen tragen müssen, obwohl er kaum mehr als ein Kind gewesen war. Eigentlich war es mein Prinzip, mich nicht für die Vergangenheit zu schämen, aber nun zuckte ich innerlich zusammen, weil ich so ein verwöhntes Gör gewesen war.
»Und wie sind Sie an die Hollyhocks gekommen?«
»Marlon. Sie werden ihn gleich kennenlernen. Er war kurze Zeit Theaterlehrer an der Schule. Eigentlich ist es sein Projekt, und er hatte eine alte Schreckschraube, die für ihn Klavier spielte.« Er lächelte. »Verzeihung, aber sie war wirklich eine Schreckschraube. Brüllte die Kinder an. Er fragte, ob ich für ein paar Monate einspringen könnte, während er jemand Neues suchte. Das war vor zweieinhalb Jahren.«
Patrick erzählte noch ein bisschen von den Kindern. Es hatte als Projekt von vier Müttern begonnen, deren Kinder das Down-Syndrom hatten, und war dann gewachsen. Einige Kinder waren autistisch, andere blind, eines war gehörlos, spürte aber den Rhythmus der Musik in den Füßen. Sie kamen aus dem ganzen südlichen Tasmanien. Er erzählte mir von der Vorstellung, die sie im letzten Jahr gegeben hatten, und dass der Premierminister zufällig in Hobart gewesen und in letzter Minute dazugekommen sei. Patrick hatte erlebt, wie der Tanz den Kindern Selbstvertrauen und Körperbeherrschung verlieh und dass sie intensive Freundschaften geschlossen hatten. Allmählich bekam ich Angst, da er so zwanglos mit ihrem Anderssein umging. Ich würde mich sicher blamieren und das Falsche sagen.
Als wir die erste Pause machten, ließ der Regen nach. Wir kauften Kaffee zum Mitnehmen, und ich ging ein paar Minuten umher. Da der Schmerz nicht sonderlich schlimm war, drängte ich Patrick, weiterzufahren, solange es trocken war. Um Viertel nach neun kamen wir in Hobart an.
Die Hollyhocks probten im Theater einer Privatschule am Ufer des Derwent. Patrick führte mich durch eine große Flügeltür in ein weiträumiges Foyer, hinter dem sich ein kleines Theater befand. Die Sitze waren in Rängen gestaffelt, die Bühne befand sich auf Bodenhöhe. Ein großer, dunkelhaariger Mann in sehr engen Leggings kam auf uns zu.
»Oh, es ist wunderschön, dass Sie mitgekommen sind!«, rief er begeistert und schüttelte mir überschwenglich die Hand. »Sie sehen wunderbar aus! Das Kleid sieht einfach
göttlich
an Ihnen aus! Ich kenne Sie nur von Fotos, aber in Wirklichkeit sind Sie doppelt so schön.«
»Vielen Dank«, sagte ich angesichts dieser enthusiastischen Begrüßung. »Und danke, dass ich heute dabei sein darf.«
Er legte auf jeden seiner Sätze eine dramatische Betonung. »Nein, nein, ich habe
Ihnen
zu danken. Die Kinder wissen noch gar nicht, dass Sie hier sind, aber sie werden
hingerissen
sein, wenn sie eine echte, lebendige Ballerina kennenlernen! Mein Gott! Sie werden sterben vor Begeisterung! Vor allem Mina. Stimmt’s, Patrick?«
Patricks
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