Der Wind der Erinnerung
doch. Es ist klein … Warte mal. Hier ist ein größeres.«
Ich ging zum Tisch im Flur und nahm das Foto meiner Großmutter mit dem fremden Mann. »Beschreib ihn mal. Ist er stämmig, mit eckigem Kinn?«
»Überhaupt nicht. Eher ein bisschen unförmig mit welligem, dunklem Haar und Mädchenaugen.«
Ich betrachtete den Mann auf dem Foto. Die Beschreibung passte nun wirklich nicht auf ihn. Dennoch wollte ich nicht so einfach von meiner Idee lassen.
»Soll ich dir das zufaxen?«
»Ich habe kein Fax.«
»Mit der Post schicken?«
Das würde zu lange dauern. »Ich habe eine Idee. Könntest du die Faxnummer der örtlichen Highschool heraussuchen und es dorthin schicken? Es ist die Lewinford Highschool. Schick es zu Händen von Patrick Taylor und schreib dazu, dass es für mich ist.« Ich bekam ein schlechtes Gewissen. »Tut mir leid, Adelaide. Ich weiß, ich bin nicht mehr deine Chefin, aber …«
»Schon gut, Em. Ich schicke es nachher los. Aber du solltest dir einen Internetanschluss zulegen.«
»So lange bleibe ich nicht.« Mein Gott, ich war es allmählich leid, das zu sagen.
Monica hatte sich von ihrem Virus erholt und kam am Donnerstag mit dem Fax zu mir.
»Und, wer ist er?«, fragte sie und überreichte mir das gefaltete Foto.
Ich klappte es behutsam auseinander. Und war enttäuscht. »Nicht der, für den ich ihn gehalten habe. Noch ein Geheimnis. Dieser Mann hat meiner Großmutter 1934 die Farm anscheinend geschenkt, aber ich weiß nicht, wieso.«
»Sie sollten damit zu Penelope Sykes gehen.«
»Ja, das hat die Floristin auch gesagt.« Dennoch zögerte ich, diesen Weg einzuschlagen, neue Bekanntschaften zu machen, mich fester an den Ort zu binden. Vielleicht würde ich auch hier im Haus alles Nötige finden.
Am Freitagmorgen saß ich mit Toast und Kaffee am Küchentisch, als es klopfte. Monica konnte es nicht sein, sie hatte einen Schlüssel. Ich stand widerwillig auf – ich mochte es nicht, wenn Leute mich beim Essen störten oder unangemeldet zu Besuch kamen – und ging zur Tür. Eine kleine Frau mit schwarzen Löckchen stand im Freien. Sie musste über fünfzig sein, doch das Grau in ihren Haaren war gründlich überfärbt.
»Kann ich Ihnen helfen?« Ich dachte an meinen Kaffee, der auf dem Tisch abkühlte.
Sie streckte mir die Hand entgegen. »Ich bin Penelope Sykes. Wie ich hörte, haben Sie sich nach mir erkundigt.«
»Das entspricht nicht ganz der Wahrheit, man hat mir von Ihnen erzählt. Ich hatte nicht mit Ihrem Besuch gerechnet.«
»Ich kam zufällig vorbei. Ich fahre übers Wochenende zu meiner Schwester nach Launceston. Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?«
»Kommen Sie herein. Ich frühstücke gerade.«
Als wir in die Küche gingen, nahm Penelope begierig alle Details des Hauses in sich auf.
»Waren Sie noch nie auf Wildflower Hill?«, fragte ich und gelangte zu dem Schluss, dass es unhöflich wäre, weiter Kaffee zu trinken, ohne ihr einen anzubieten.
»Nein, es ist seit ewigen Zeiten verschlossen. Es steckt voller Geschichten.«
»Kaffee?«
Sie schüttelte den Kopf und wurde mir gleich sympathischer.
Ich setzte mich wieder an mein Frühstück. »Ja, hier gibt es eine Menge Geschichten. Ich habe Bücher, die ich Ihnen überlassen möchte, alte Unterlagen der Farm.«
»Das wäre toll.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich würde sie sonst wegwerfen.«
»Das dürfen Sie nicht tun. Ich nehme alles. Ich werde eines Tages ein Buch über Tasmanien während der Depression schreiben.« Sie setzte sich mir gegenüber. »Meine Mutter kannte Ihre Großmutter.«
»Tatsächlich?«
»Nicht gut. Aber sie kam in den Ferien manchmal zum Spielen nach Wildflower Hill. Sie wohnten zwei Jahre lang auf der Nachbarfarm. Mum erzählte mir von einem kleinen Mädchen, das immer in den Ferien kam und mit dem sie den ganzen Tag gespielt hat. Aber ich kann mich nicht an den Namen erinnern.«
»Könnte Ihre Mutter ihn wissen?«
»Sie ist vor vier Jahren gestorben.«
»Das tut mir leid. Wissen Sie sonst noch etwas über das kleine Mädchen? Ich habe nämlich selbst ein Geheimnis entdeckt.« Ich erzählte ihr von dem Foto, und sie bat mich, es zu holen.
»Es dürfte 1929 oder 1930 aufgenommen worden sein. Das erkenne ich an der Kleidung, aber auch an der Straße. Sie befindet sich in Hobart. Es gab damals Straßenfotografen, die Bilder von Passanten machten und sie sehr günstig verkauften. Aber dieser Laden hier …« Sie deutete auf ein Firmenschild, das mir gar nicht
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