Der Wind der Erinnerung
sanfte Stimme bildete einen starken Kontrast zu Marlons. »Mina Ballerina. Sie liebt das Ballett.«
»Sie ist ein
Star!
«, quiekte Marlon. »Sie werden sie lieben.«
Ich setzte mich in die erste Reihe, während die beiden den Raum herrichteten. Patrick holte ein elektrisches Klavier hinter der Bühne hervor und spielte einige Stücke. Marlon stolzierte umher und improvisierte unanständige Texte, bis die ersten Kinder mit ihren Eltern eintrafen. Dann wurde er plötzlich so würdevoll und umsichtig, dass ich mich schon fragte, ob ich mir seinen Auftritt von vorhin nur eingebildet hatte. Allmählich füllten sich die Reihen mit Eltern, während die Kinder, bei denen alle Altersstufen vertreten waren, sich bei Marlon aufstellten und bunte Armbänder erhielten. Rosa stand für links, blau für rechts. Zehn der achtzehn hatten die mandelförmigen Augen und rundlichen Gesichter des Down-Syndroms, aber davon abgesehen waren sie ganz unterschiedlich. Ich verfolgte, wie sie sich bereit machten. Manche wirkten aufgeweckt, andere waren in Träumen versunken. Die einen waren sehr konzentriert, die anderen laut oder ängstlich oder klammerten sich an ihre Eltern. Doch als Patrick die ersten Töne eines alten Liebesliedes aus einem Musical anstimmte, dessen Titel mir nicht mehr einfiel, wurden sie plötzlich aufmerksam und gingen auf ihre Positionen. Marlon rief: »Rosa bewegen! Blau bewegen! Umdrehen! Arme hoch und … langsam.«
Ich gebe zu, ich hätte nicht geglaubt, dass es ein hübscher Anblick sein könnte. Ich hatte mir die Kinder unbeholfen, ungeschickt und unfähig vorgestellt, den Anweisungen zu folgen. Doch die Tänzer besaßen eine kindliche Anmut, eine tiefe Begeisterung, die sich in allen Bewegungen und in ihren Gesichtern widerspiegelte. Es war wunderschön. Noch nie hatte ich mich so menschlich gefühlt. Ich kämpfte mit den Tränen, damit niemand dachte, ich wäre traurig oder hätte Mitleid mit ihnen, und ließ mich von der langsamen, melancholischen Musik durchdringen.
Als sie fertig waren, gab es lauten Applaus von den Eltern und mir. Marlon drehte sich um und verbeugte sich theatralisch. »Und nun, unser besonderer Gast. Leute, dieses göttliche Geschöpf in der ersten Reihe ist eine berühmte Ballerina, Emma Blaxland-Hunter.«
Ich war mir nicht sicher, was ich machen sollte, also lächelte und winkte ich. Sekunden später war ich von Kindern umringt, die Autogramme haben und Fragen stellen wollten. Ich wusste nicht, wen ich zuerst ansehen oder wem ich antworten sollte, doch dann setzte sich ein älteres, dunkelhaariges Mädchen mit Down-Syndrom neben mich und nahm meine Hand. Ich schaute sie an.
»Ich bin Mina«, sagte sie.
»Freut mich, dich kennenzulernen.« Ich lächelte.
»Mina Ballerina.«
»Ich habe von dir gehört.«
»Kannst du mir Ballett beibringen?«
Sie sprach schwerfällig, aber ich konnte sie besser verstehen als die meisten anderen. »Ich … ich kann dir ein paar Schritte zeigen.«
»Ich kenne schon alle Positionen. Ich zeige sie dir.« Sie zog mich vom Stuhl hoch.
Dann stand ich auf einmal mitten auf der Bühne, umgeben von Kindern. Mina stellte sich vor mich und absolvierte die Positionen. Bei der vierten Position korrigierte ich die Haltung der Arme, und bei der fünften die der Füße, obwohl sie die letzte körperlich gar nicht bewältigen konnte.
»Zeigst du mir noch was anderes?«
Ich schaute zu Marlon, der lächelnd mit den Schultern zuckte. Ich hatte keine Ahnung, wie viel ich Mina zutrauen sollte.
»Wie wäre es mit der Arabesque?«
»Ist das mehr als Stillstehen? Ich möchte lieber einen Tanz lernen. Ich mag
Schwanensee.
«
»Die Tänze aus
Schwanensee
sind sehr schwierig. Da muss ich erst mal nachdenken. Ich bin nicht …«
»Kannst du für uns tanzen?«
»Ich … nein, das kann ich nicht. Ich habe mir das Knie verletzt. Es funktioniert nicht mehr richtig.«
Mina nickte ehrfürchtig. »Das ist meiner Freundin auch passiert. Sie hatte einen Autounfall und sitzt jetzt im Rollstuhl.«
Marlon unterbrach sie. »Na schön, Mina. Jetzt dürfen die anderen auch mal mit Emma sprechen. Wer möchte ein Autogramm?«
»Ich!«, erscholl es aus vielen Kehlen, und während ich die Autogramme schrieb, überlegte ich, welchen Tanz ich Mina beibringen könnte. Mir war, als hätte ich sie enttäuscht. Körperlich konnte sie keine der großen Choreografien bewältigen. Die Bewegungen der Arme klappten ganz gut, aber es mangelte ihren Beinen einfach an Flexibilität. Doch
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