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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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eines Abgeordneten niedergelassen hatte. Ich durfte nichts übersehen.
    Ich öffnete den Deckel der erstbesten Kiste und sah hinein. Bücher. Vielleicht würde es doch nicht so lange dauern. »Ich rufe bei der Fluglinie an und storniere den Flug. Ich kann einen neuen buchen, wenn ich wirklich fertig bin.« Das tat gut, das Rennen gegen die Uhr wäre vorbei. »Ich muss das Haus für den Verkauf richtig herrichten, selbst wenn es noch einen ganzen Monat dauert.«
    »Soll ich bleiben?«
    »Natürlich. Ohne dich schaffe ich das nicht.«
    »Soll ich nicht doch das große Schlafzimmer in Ordnung bringen?«
    »Nein«, sagte ich rasch. Ich war abergläubisch. Wenn ich in Grandmas altes Zimmer zöge, würde ich für immer bleiben. »Es gefällt mir, wo ich bin.«
     
    Am besten gefielen mir die Küche und das Wohnzimmer. Im Schlafzimmer schlief ich nur und ging erst nach oben, wenn ich die Augen nicht mehr aufhalten konnte. Tagsüber war ich in der Küche, weil die Sonne hereinschien, und abends lockte mich der Kamin im Wohnzimmer. Eigentlich war es zu warm für ein Feuer, aber ich liebte das Knistern und den Schein der Flammen. In London hatte ich immer nur Zentralheizung gehabt. Abends hörte ich Radio, trank ein oder zwei Gläser Wein und las alte Briefe.
    Ich saß mit dem zweiten Glas Rotwein auf der Couch und studierte gerade einen Brief, den Grandpa seiner Frau von einer offiziellen Reise nach Hongkong geschrieben hatte, als im Radio der Blumenwalzer aus der
Nussknackersuite
ertönte.
    Ich musste einfach zuhören, obwohl es weh tat. Meine erste Solorolle war der Tautropfen in Balanchines Version des Stoffes und dies mein Auftritt gewesen. Es war eine Qual, dass ich nun, am Ende meiner Karriere, so unbarmherzig an ihren Beginn erinnert wurde. An meine Hoffnungen. Meine Träume. Meine Muskeln und Sehnen zuckten, spürten den Bewegungen nach, doch ich saß reglos wie ein Stein da.
    Als das Stück zu Ende war, fasste ich mich wieder und trank den Wein aus. Ich dachte an diese erste Inszenierung. In Balanchines Choreografie sollten Kinder die Rollen der Clara und des Nussknackers spielen, und er hatte sie deshalb vereinfacht. Ich war keine große Choreografin, kannte den Tanz des Tautropfens aber in- und auswendig. Konnte ich ihn irgendwie vereinfachen? Nicht für ein Kind, sondern für ein junges Mädchen mit Down-Syndrom?
    Ich stand auf, schaltete das Radio aus, stellte mich mitten ins Wohnzimmer und belastete vorsichtig mein Knie. Genau wie ich konnte auch Mina keine komplizierten Beinbewegungen vollziehen. Ich summte die Melodie und dachte an die Bewegungen, die Marlon den Kindern beigebracht hatte. Es wurde viel gestampft und getrampelt. Ich versuchte, die Bewegungen ein bisschen eleganter zu gestalten, so dass Mina sie für Ballett halten würde. Dann probierte ich die Armpositionen und baute sie aus, so dass sie die Geschichte übernahmen, die meine Füße nicht erzählen konnten. Ein Bild blitzte in mir auf: Mina, ganz in hellen Farbtönen, die mitten auf der Bühne tanzte. Die anderen Kinder wären weiß gekleidet und bildeten ein Echo ihrer Bewegungen. Es wäre kein richtiges Ballett, aber es würde sich so
anfühlen,
vor allem für Mina, die sich nach dieser Musik sehnte.
    Ich setzte mich wieder. Wollte ich mich wirklich darauf einlassen? Wie lange würde ich hierbleiben? Vielleicht enthielten die Kisten im Schererhäuschen nur Bücher und Kleinkram. Das meiste hätte ich bis zum Ende der Woche weggeworfen und würde einen Tag später im Flugzeug nach Sydney sitzen.
    Aber eigentlich wollte ich auch nicht nach Sydney. Ich wollte zurück in das Leben, das ich vor sechs Monaten geführt hatte. Ich biss mir auf die Lippen, fest entschlossen, nicht zu weinen und kein Selbstmitleid zuzulassen. Fest entschlossen, die große Leere in mir zu verdrängen.
     
    In den nächsten Tagen arbeitete ich den Tanz für Mina um und fragte mich die ganze Zeit, ob ich mich zum Idioten machte. Ich wusste eigentlich gar nichts über sie und ihre Fähigkeiten. Doch ich hatte dieses Bild von ihr im Kopf: die blasse Haut, das Scheinwerferlicht, wie sie sich mit kindlicher Anmut zu der herrlichen Musik bewegte. Ich war mir fast sicher, dass ich es einfach genug, aber dennoch schön und elegant gestaltet hatte für ein Mädchen, das
Schwanensee
liebte.
    Schließlich beschloss ich, mit Patrick zu sprechen und ihm zu zeigen, was ich entwickelt hatte. Vielleicht würde er sagen, dass es nicht funktionierte; dann wäre ich enttäuscht, hätte dem

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