Der Wind der Erinnerung
nicht verpflichten. Zu gar nichts. Andererseits, wieso nicht? Glaubte ich denn, mein Knie würde plötzlich heilen? Ich könnte nach London zurückkehren und meine Karriere fortsetzen? Tränen brannten in meinen Augen.
Patrick trat vor und berührte sanft mein Handgelenk. »Es tut mir so leid, Emma. Ich verlange zu viel von Ihnen.«
»Nein, nein, es geht schon. Ich überlege nur.« Die Tränen waren mir peinlich, die Wärme seiner Hand überraschte mich.
»Mina schafft das schon. Sie braucht keinen besonderen Tanz zu lernen.«
»O doch«, erwiderte ich leidenschaftlich. »Ich weiß, was es bedeutet, jung und vom Ballett besessen zu sein.« Ich holte tief Luft und kämpfte die letzten Tränen nieder. »Tut mir leid, ich wollte nicht weinen.«
»Tränen kommen, wenn sie kommen müssen.« Er zog seine Hand zurück. »Soll ich Sie nach Hause bringen? Ich kann Monica dann mitnehmen.«
»Ich bleibe. Ich meine, ich bleibe hier in Tassie. Bis zur Weihnachtsvorstellung. Ich möchte Ihnen gerne helfen.«
»Das …« Er sah aus, als müsste er ein Grinsen unterdrücken. »Das ist toll, Emma. Einfach super.«
Am nächsten Morgen wurde ich früh vom Telefon geweckt. Früh? Es war acht Uhr. Ich hatte verschlafen. Das lag am Wein.
Ich tastete nach dem Hörer. »Hallo?«
»Hier ist Penelope Sykes. Ich habe etwas für Sie und wollte fragen, ob ich es heute Morgen kurz vorbeibringen kann.«
Immerhin hatten die Leute inzwischen begriffen, dass ich keine unangekündigten Besuche schätzte. »Sicher, was ist es denn?«
»Ein Brief. Ich habe ihn in alten Geschäftsbüchern gefunden. Es ist ein
sehr
persönlicher Brief.« Sie lachte leise. »Den möchten Sie vermutlich behalten.«
Meine Neugier war geweckt, und ich setzte mich auf. »Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie ihn vorbeibringen könnten.«
»Gut, ich fahre jetzt los. In zwanzig Minuten bin ich da.«
Ich duschte schnell, zog mich an und versuchte, das Katergefühl abzuschütteln. Ich wusste, dass es nicht gut war, wenn man alleine viel trank, doch gestern Abend war ich so tief in Selbstmitleid versunken, dass ich nicht mehr herausfand. Heute würde es anders laufen, nahm ich mir vor.
Penelope stand pünktlich vor der Tür.
»Möchten Sie einen Tee?«, fragte ich, als sie mir den Brief überreichte.
»Nein, ich muss weiter. Ich will Sie nicht aufhalten.«
Beim letzten Besuch musste ich wohl wirklich unfreundlich, wenn nicht gar feindselig gewirkt haben. »Es macht mir keine Mühe.« Jetzt lächelte ich übertrieben und kam mir schon wieder wie ein Idiot vor. »Ich habe Ihnen noch einige Sachen herausgesucht.«
»Rufen Sie mich nächste Woche an, wenn es Ihnen passt.« Sie tippte auf den Brief. »Es gibt keinen Empfänger und kein Datum. Er lag in einem Wirtschaftsbuch aus dem Jahr 1939 . Den Unterlagen habe ich entnommen, dass es die Handschrift Ihrer Großmutter ist.« Sie wandte sich um und ging zum Wagen.
Ich öffnete den Brief, während ich noch auf der Schwelle stand. Eine Brise zupfte an einer Ecke des Papiers. Penelope hatte recht, es war die Handschrift meiner Großmutter. Der Brief fing mitten im Satz an, war also nicht vollständig.
… aber Liebe hat nichts mit Befehlen zu tun, und ich bin keine Frau, der man befiehlt. Ich liebe dich, und was immer die anderen sagen, wird niemals etwas an dieser unumstößlichen Tatsache ändern. Mir ist, als hätte ich dich immer geliebt, als wärst du schon bei meiner Geburt ein Stern am Himmel gewesen und hättest geduldig auf mich gewartet. Wenn ich dich anschaue, tun meine Rippen weh. Meine Haut brennt. Ich denke an dich, und schon wird mir ganz warm. Gibt es etwas Schöneres und Natürlicheres als eine solche Reaktion? Wenn wir unseren Verstand ausschalten, unser Herz, werden unsere Körper immer noch voneinander angezogen. Es ist primitiv. Wenn es einen Gott gibt, würde er sich genau das für uns wünschen. Wenn du in mir bist, vollenden wir einen Kreis, der nie unterbrochen werden sollte. Es ist egal, was sie in der Stadt reden; es sind kleingeistige Narren, die nicht unter die Oberfläche blicken können. Ich versichere dir, mein Liebling, dass du mein bist und ich dein. Sie können uns nicht weh tun.
Einen Moment lang blieb mir die Luft weg. Die Leidenschaft lag nicht nur in den Worten, sondern auch in der Kraft, mit der man die Tinte aufs Papier gebracht hatte. Ich wusste, es war die Handschrift meiner Großmutter, dieselbe Handschrift, mit der sie Geburtstagskarten und den Brief an meinen
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