Der Wind der Erinnerung
der letzte Wollertrag hatte bei dreiundzwanzig Ballen gelegen. Sie hatten eine nette Summe gebracht, waren aber von Raphaels Schulden aufgefressen worden, bevor sie auch nur einen Penny davon gesehen hatte. Fünfzig Ballen würden die Farm mehr als ein Jahr am Laufen halten, und sie könnte außerdem Möbel kaufen. Hundert würden sie sogar reich machen, so dass sie Lucy für immer zurückholen könnte.
»Aber ich brauche Hilfe. Allein schaffe ich es nicht«, sagte er.
»Ich kann mir keine weiteren Leute leisten und auch nicht erwarten, dass alle kostenlos für mich arbeiten.«
»Mikhail wird helfen. Können Sie reiten? Dann können Sie auch mitarbeiten.«
»Nein, ich habe noch nie ein Pferd aus der Nähe gesehen.«
»Ich bringe es Ihnen bei. Wir drei und die Hunde werden diese Farm zu dem machen, was sie eigentlich sein sollte. Ist es nicht das, was Sie wollten, als Sie Ihr Erbe investiert haben? Sie wollen das Geld doch nicht verschwenden. Sie haben sie doch nicht gekauft, um bei den ersten Schwierigkeiten aufzugeben.«
Beattie hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Lüge. »Natürlich nicht.«
»Gut, wenn wir alle in die Hände spucken, können wir Wildflower Hill zu einer blühenden Farm machen. Es wird schwer, ist aber nicht unmöglich.«
Vor schwerer Arbeit fürchtete sie sich nicht. Sie hatte viel mehr Angst davor, ihre neugewonnene Macht zu verlieren. Also holte sie tief Luft und schüttelte ihm fest die Hand. »Sie sind eingestellt, Charlie Harris.«
An dem Morgen, an dem sie Lucy erwartete, war Beattie außer sich vor Nervosität. Es war der erste Besuch ihrer Tochter, seit ihr Wildflower Hill gehörte. Wenn ihr das Haus nun nicht gefiel? Früher war Lucy einfach ein Teil ihres täglichen Lebens gewesen, und mit viel Fleiß und der Hilfe von Charlie Harris wollte sie ihre Tochter zurückbekommen. Mit Fleiß und Opfern. Sie musste tief Luft holen, wann immer sie an das letzte Darlehen dachte, das sie aufgenommen hatte. Der Bankdirektor hatte ihr eine Liste der vierteljährlichen Rückzahlungen samt Fälligkeitstermin vorgelegt. Sie war furchteinflößend. Im Grunde reichte ihr Geld für die letzte Zahlung gar nicht aus, doch sie hoffte, dass der Wollertrag hoch genug wäre, um die Bank einen Monat zu vertrösten. Doch selbst so musste sie sparsamer denn je sein. Sie und ihre beiden Mitarbeiter aßen zum Frühstück nur noch Brot und Bratfett, Marmelade konnten sie sich nicht mehr leisten. Zum Glück hatte Mikhail einen grünen Daumen, und überall im Garten spross seine Saat.
Henrys neuer blauer Chevrolet brummte viel später als erwartet, nämlich kurz vor dem Mittagessen, die Einfahrt herauf. Hoffentlich erwarteten Henry und Molly nicht, dass sie sie zum Essen einlud. Es gab nicht genügend Stühle, von Lebensmitteln ganz zu schweigen. Beattie hatte das Nötige für Lucys Besuch aufgespart; sie wollte nicht gleich am ersten Tag alles an Henry und Molly verschwenden. Vor allem, da sie ohnehin so viel besaßen.
Sie wartete an der Haustür. Der Motor wurde ausgeschaltet, man hörte nur noch das Rascheln der Blätter im Wind. Lucy stieg aus, ihr rotes Haar schimmerte in der Sonne. Beattie breitete die Arme aus und rechnete mit einer stürmischen Begrüßung, doch Lucy war vorsichtig. Sie kam unbeholfen und argwöhnisch näher. Die Trennung war lang gewesen.
Beattie kniete sich hin und legte die Arme um Lucy, ohne deren Zurückhaltung zu beachten. »Mein Liebling, ich habe dich so vermisst.«
Lucy schmolz dahin und klammerte sich fest an Beattie. Ihr kleines Herz klopfte heftig. Beattie sah Henry und Molly auf sich zukommen. Er trug keinen Hut, sein Haar wurde allmählich schütter. Sie stand auf und setzte sich Lucy auf die Hüfte, obwohl sie inzwischen zu groß dafür war. Dann lächelte sie zur Begrüßung.
»Willkommen auf Wildflower Hill.«
»Wir waren schon mal hier«, erwiderte Henry mürrisch.
Beattie erkannte, dass er eifersüchtig war. Vielleicht wünschte er sich sogar, er wäre noch mit ihr zusammen; möglicherweise hätte es ihm auch gefallen, Besitzer einer so großen Farm zu werden. »Aber jetzt gehört es mir. Kommt herein.«
Drinnen sah es natürlich weniger eindrucksvoll aus. Sie ließ Lucy durchs ganze Haus laufen und in die leeren Zimmer schauen.
»Erzähl mir von diesem Onkel, der gestorben ist und dir das Geld hinterlassen hat«, sagte Henry, während er sich umschaute.
»Großonkel. Mütterlicherseits.«
»Du hast ihn nie erwähnt. Ich wusste gar
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