Der Wind der Erinnerung
nicht, dass du noch Kontakt zu deiner Mutter hast.«
Zum Glück unterbrach Molly sie an dieser Stelle. »Wo soll sie schlafen?«, rief sie von oben, nachdem sie die Zimmer inspiziert hatte.
»Zuerst mal bei mir. Ich kann mir im Moment kein neues Bett leisten.«
Lucy galoppierte die Treppe herunter und legte die Arme um Beatties Taille, doch Henry verzog missbilligend das Gesicht. »Sie ist kein Kleinkind mehr, Beattie. Sie braucht ein eigenes Zimmer.«
»Es ist mir egal«, sagte Lucy.
»Natürlich ist es dir egal. Du hast ein gutes Herz«, erwiderte Molly.
»Der Onkel?«, hakte Henry nach.
»Onkel Montgomery. Er lebte in Inverness. Ich bin ihm nur einmal begegnet.« Hoffentlich wurde sie nicht rot.
»Wohnst du ganz allein hier?«, fragte Henry, als Molly wieder zur Treppe ging.
»Nein, Mikhail hilft mir im Haus und im Garten, und Charlie ist mein Verwalter.«
»Die wohnen hier?« Molly schien entsetzt.
»Mikhail hat sein Zimmer unten, und Charlie wohnt im Schererhäuschen.« Er hatte darauf beharrt, dass es nicht richtig sei, in ihrem Haus zu wohnen, und dass alle anderen Leute das ebenso sehen würden.
»Du kannst dir zwei Angestellte leisten, aber keine Möbel?«
»Erst nach der nächsten Schur.«
»Und die wäre?«
Sie standen wieder an der Haustür. Sie würde Henry nicht verraten, dass sie erst in einem Jahr wieder Geld einnehmen würde. Dass sie in Wirklichkeit versuchte, für einige Pennys Wildkaninchen zu verkaufen, um sich Kerosin leisten zu können. Der Winter war noch Monate entfernt, aber sie hatte jetzt schon Angst davor.
»Bald«, sagte sie zu Henry. »Lucy hat es gut bei mir, ich sorge für sie. Ich habe viele Jahre für sie gesorgt. Du brauchst nicht an mir zu zweifeln.«
Henry wirkte ernüchtert, als sie ihn an seine lasterhafte Vergangenheit erinnerte, und ging mit gesenktem Kopf zum Auto. Molly aber blieb hartnäckig.
»Lucy, willst du deinem Daddy nicht sechs Küsschen geben und dich verabschieden?«
Das Mädchen rannte davon, und Molly blickte Beattie an. »Ich muss dir etwas sagen, bevor du es von Lucy erfährst und wütend wirst.«
»Was ist los?« Sie bemühte sich, Wärme in ihre Stimme zu legen.
»Sie nennt mich nicht mehr Mama Molly, nur noch Mama.«
Beattie wollte protestieren, doch Molly sprach weiter.
»Ich weiß, dass du ihre Mutter bist, und will dich auch nicht verdrängen. Wirklich nicht. Aber sie kommt nächstes Jahr in die Schule, und es ist einfach zu kompliziert, den Lehrern, Nachbarn und Freunden die Situation zu erklären.«
»Kompliziert? Oder peinlich?«
Sie wurde rot. »Beides, das gebe ich zu. Das Kind wurde unehelich geboren. Sie wird in Hobart, wo wir wohnen, zur Schule gehen. Ich bin die Person, die als ihre Mutter auftritt. Warum sollten wir dem Kind ein Schandmal aufdrücken? Warum sollte sie anders sein als ihre Freundinnen? Sie kann nichts dafür, dass ihre Herkunft … zweifelhaft ist.«
Beattie wollte etwas erwidern, beherrschte sich aber. Immerhin hatte sie gewusst, dass Henry verheiratet war, als sie die Affäre mit ihm begann. Es schien eine Ewigkeit her zu sein.
»Jedenfalls bin ich Mama, und du bist Mummy, und das Kind kann es auseinanderhalten.« Sie zog sich die Handschuhe an.
»Beeil dich!«, rief Henry vom Auto.
»Er ist sehr schlecht gelaunt. Wir sehen uns in einer Woche. Ruf an, wenn wir früher kommen sollen.«
Beattie verschwieg, dass am Ende der Woche das Telefon abgestellt wurde. »Bis dann.«
Lucy kam angelaufen. Beatties Herz schlug heftig vor Empörung. Wie konnte Molly es wagen, ihr Handeln so sachlich zu erklären? Beattie wusste genau, dass Molly sich nach einem eigenen Kind sehnte und dass die Tatsache, Mama genannt zu werden, ihren eigenen Wünschen ebenso entsprach wie denen des Mädchens.
»Geht es dir gut, Mummy? Du siehst so böse aus«, sagte Lucy.
Beattie beugte sich vor und küsste sie auf den Kopf, während der Wagen davonfuhr. »Nicht auf dich, mein Schatz. Komm, wir gehen in unser neues Haus.«
Lucy wachte früh auf. Zu früh. Mummy schlief noch neben ihr, auf der Seite zusammengerollt, einen Arm quer über Lucys Bauch. Sie wollte wieder einschlafen, doch das Bett war fremd, die Vögel waren laut, und sie musste Pipi machen.
Sie stand auf und zog den rosa Morgenmantel an, den Molly ihr gestrickt hatte. Molly konnte nicht so hübsche Sachen machen wie Mummy, er war ziemlich schief ausgefallen. Sie schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, weil sie sich daran erinnerte, was Daddy und Molly immer
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