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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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sagten: »Wenn du früh aufwachst, mach dir selbst Frühstück. Lass uns schlafen.«
    Im Flur war es kalt, und sie zog den Morgenmantel enger um sich. Sie machte einen Abstecher auf die Toilette und ging dann nach unten. Mummys neues Haus war wunderbar, so viele leere Zimmer. Sie fragte sich, ob sie in einem wohl ein Zelt aufschlagen und eine Nacht auf Decken darin schlafen durfte.
    Lucy fand die Küche und schnitt sich ein schiefes Stück Brot ab, strich mit einem Löffel Honig darauf und ging zum Fenster. Unten auf der Koppel sattelte ein Mann gerade ein Pferd. Er hatte dunkle Haut, aber nicht annähernd so dunkle wie das Hausmädchen von Mrs. Bainbridge, die bei ihnen gegenüber wohnte. Die war so dunkel wie Lakritz.
    Lucy schaute eine Weile hinaus. Zu Hause hatte sie ein Spielzeugpony, hätte aber gern mal ein echtes angefasst. Beim letzten Besuch hatte ein Mann sie ausgeschimpft, weil sie sich den Pferden genähert hatte, doch der dunkelhäutige Mann sah freundlich aus. Außerdem gehörte Mummy jetzt die Farm, also würde er vermutlich tun, was Lucy sagte. Sie öffnete die Tür zur Waschküche, ging die Treppe hinunter und nach draußen auf die Koppel.
    Das Gras war noch nass vom Tau, und die Sonne verlieh den Wolken einen goldenen Rand. Der Himmel sah aus wie ein Milchshake mit Erdbeeren. Der Mann wollte gerade auf das Pferd steigen und wegreiten, also rief sie: »Hallo! Warten Sie!«
    Der dunkelhäutige Mann drehte sich um und lächelte.
    Ihre Bettsocken waren schon nass vom Tau. Aus der Nähe sah der Mann gut aus, mit großen, freundlichen dunklen Augen. »Die Farm gehört meiner Mummy. Ich möchte das Pferd streicheln.«
    »Natürlich. Aber du musst vorsichtig sein.«
    Das Pferd senkte den Kopf, und Lucy rieb ihm behutsam die Nase. Es zuckte mit den Ohren.
    »Na bitte, er mag dich.«
    »Ich heiße Lucy.«
    »Ich heiße Charlie. Wir sind uns schon einmal begegnet, vor ein paar Jahren.«
    Lucy schaute ihn an. »Ich glaube nicht. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis.«
    »Du warst noch sehr klein. Deine Mum wollte mit dir einen reißenden Bach überqueren. Du bist ins Wasser gefallen, und ich musste reinspringen und dich rausziehen.«
    Sie dachte angestrengt nach, aber die Erinnerung wollte nicht kommen. Nur ein verschwommenes Bild, wie sie im Wasser war und Angst hatte, aber es war nicht genau zu erkennen. »Ehrlich? Das war aber nett von Ihnen, sonst wäre ich ertrunken.« Sie streichelte die Mähne des Pferdes und sah ihn wieder an. »Warum haben Sie so dunkle Haut?«
    »Warum hast du so rotes Haar?«
    Sie zuckten beide mit den Schultern. Lucy musste lachen.
    »Geh lieber zurück ins Warme.« Er setzte den Hut auf und stieg aufs Pferd. »Deine Mutter wird sich Sorgen machen.«
    »Nein, macht sie nicht.«
    Charlie lachte. »Vielleicht doch.« Er stieß einen Pfiff aus, worauf zwei Hunde aus dem Stall geschossen kamen und auf ihn zurannten. Dann galoppierte er davon und ließ Lucy im feuchten Gras stehen.
    Hatte er sie wirklich aus einem Bach gezogen, als sie klein gewesen war? Daran müsste sie sich doch erinnern. Vielleicht hatte er gelogen. Molly sagte, man könne Mrs. Bainbridges Hausmädchen nicht trauen, weil sie schwarz sei; vielleicht galt das auch für Charlie. Andererseits war er sehr nett zu ihr gewesen. Molly sagte manchmal Dinge über andere Leute, die nicht ganz richtig waren. Einmal hatte sie mit Daddy gestritten, das einzige Mal überhaupt, und Molly hatte ein Wort für Mummy benutzt. Lucy konnte sich nicht daran erinnern, aber es war kein nettes Wort gewesen.
    »Lucy!«
    Sie blickte nach oben und sah Mummy, die aus dem Schlafzimmerfenster winkte.
    »Komm hoch! Es ist noch zu kalt.«
    Die Sonne ließ den Tau im Gras schimmern. Lucy lief wieder hinein und tat dabei, als wäre sie ein Pferd.
     
    Beattie kniff sich in den Nasenrücken und legte den Stift nieder. Ihr Nacken schmerzte vor Anspannung, ihre Kopfhaut schien zu eng für den Schädel. Wieder schaute sie auf die Zahlen, konnte sie aber nicht richtig zusammenrechnen.
    Die Zinsen für das Darlehen würden ihr den Hals brechen.
    Charlie hatte am Freitag zweitausend Merinoschafe erster Güte von der Farm gekauft, auf der er zuletzt gearbeitet hatte. Jetzt war es zu spät für Reue; sie hatte schon die Papiere unterzeichnet.
    Trotzdem, es war ein schöner Nachmittag. Die Sonne schien hell durchs Fenster des Arbeitszimmers – einem winzigen Raum mit einer Kiste als Stuhl und einem Schreibtisch, den Mikhail provisorisch zusammengehämmert

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