Der Wind über den Klippen
auf dem Fußboden landete. Auch der Gazever-band an der Schläfe hatte einige Flecken abbekommen, und die ganze Mundgegend leuchtete in sattem Blau. Iida sah aus wie ein Clown, der beim Schminken die falsche Farbe erwischt hat.
Ich küsste meine Tochter auf den Scheitel und meinen Mann auf den Mund. Einstein schubberte an meinen Knöcheln und schien zu glauben, ich würde ihm etwas zu fressen geben. Stattdessen schmierte ich mir ein üppiges Butterbrot.
»Ich hab einen Anruf vom Mathematischen Institut bekommen. Sie haben gefragt, ob ich nicht eine Verlängerung meiner Assistentur beantragen will.«
»Wann läuft die Bewerbungsfrist ab?«, fragte ich mit vollem Mund.
»Heute. Deshalb hat die Sekretärin ja angerufen, sie dachte nämlich, mein Antrag wäre verloren gegangen.«
»Du willst also keine Verlängerung?«
Anttis fünfjährige Assistentur lief zum Jahresende aus. Ich hatte mich nicht in seine Karriereplanung eingemischt, weil mir die Entscheidung darüber nicht zustand. Trotz seiner Promotion vor drei Jahren war er über die Assistentur bisher nicht hinaus-gekommen, denn ihm fehlten die kräftigen Ellbogen und die edle Kunst, Konkurrenten zu verbeißen. Außerdem war ihm der Universitätsbetrieb verleidet, weil er meinte, heutzutage komme es nur noch auf Prüfungen und Scheine an, Wissensdurst und Entdeckerfreude zählten nichts mehr.
»Du weißt ja, dass ich ein paar Stipendienanträge laufen habe.
Jedenfalls würde ich mich das Frühjahr über gern noch um Iida kümmern. Aber dann … Vielleicht finde ich einen anderen Mathematikerjob.«
»Du als Versicherungsmathematiker? Oder bei einer Bank, im dunklen Anzug? Das kann ich mir kaum vorstellen!«
Antti ging es wie mir, in Jeans und Pullover fühlte er sich am wohlsten. Seine glatten schwarzen Haare fielen ihm bis auf die Schultern, wenn er sie nicht im Nacken zusammenband. Das schmale Gesicht, die Hakennase und der große Mund legten den Verdacht nahe, dass Indianer unter den Vorfahren der Sarkelas waren.
»Ich hatte etwas ganz anderes im Sinn. Vielleicht hat der Naturschutzbund oder Greenpeace Verwendung für meine mathematischen Fähigkeiten. Oder das Meeresforschungsinsti-tut. Ich hab neulich gehört, dass im nächsten Sommer ein von der EU finanziertes Ostseeforschungsprojekt beginnt, bei dem auch Mathematiker gebraucht werden.«
»Kategorietheoretiker?« Die Sparte, auf die sich Antti spezialisiert hatte, war denkbar weit von jeder praktischen Anwendung entfernt.
»Den Winter über hätte ich Zeit genug, mich wieder in die elementare Mathematik einzuarbeiten.«
»Du willst also hauptberuflicher Weltverbesserer werden«, grinste ich, obwohl mir Anttis ernsthafte Einstellung zur Welt und zum Leben von Anfang an gefallen hatte. Manchmal übertrieb er allerdings und versank tagelang in Melancholie, bis ich ihn mit Gewalt aus seiner trüben Stimmung riss.
»Man kann doch nicht sein Leben lang unbeteiligt zuschauen, wie rundherum alles zum Teufel geht. Wenn ich meine Welt-verbesserungsmanie, wie du das nennst, irgendwie mit meinen Fachkenntnissen verbinden kann, warum nicht? Du bist ja auch nicht der Typ, einfach alles laufen zu lassen.« Er kam zu mir und schlang die Arme um mich, Iida drängte sich dazwischen, und schließlich fanden wir uns in einer Hotdog-Umarmung wieder, wobei wir Eltern die beiden Brötchenhälften waren und Iida das Würstchen. Die Rolle des Senfes übernahm das Blaubeerkompott, mit dem wir bald alle drei beschmiert waren.
»Findest du, Polizisten sind Weltverbesserer?«, fragte ich, als wir uns endlich voneinander lösten.
»So habe ich das nicht gemeint. Ich wollte nur sagen, dass du deinen Job auch ernst nimmst.«
»Aus irgendeinem Grund mag ich diesen Scheißjob und würde ihn um keinen Preis gegen einen anderen eintauschen«, gab ich zu. »Mit anderen Worten, wenn du wieder arbeiten gehst, müssen wir eine Betreuung für Iida finden. Oder sind wir Rabeneltern, wenn wir uns nicht selbst um unser Kind kümmern?«
Das schlechte Gewissen plagte mich jedes Mal, wenn ich in der Zeitung einen der Leserbriefe las, in denen berufstätige Mütter verteufelt wurden, obwohl ich genau wusste, dass niemand davon profitierte, wenn Iida bis zum Schulbeginn zu Hause blieb und ich meine eigenen Bedürfnisse verdrängte. Als ich mich mit meiner Schwester Eeva darüber unterhalten hatte, hatte sie wieder einmal gefragt, warum ich mir unter diesen Umständen überhaupt ein Kind zugelegt hätte. Sie war Englisch-lehrerin, wollte
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