Der Wind über den Klippen
bevor ich sie aufschlagen konnte, klingelte das Telefon. Wang teilte mir mit, die Pilzsammler-Betriebswirtin und ihr Toomas seien am Montagmittag in der estnischen Stadt Pärnu gesehen worden. Die estnische Polizei werde die Suche fortsetzen.
»Soll ich den verzweifelten Ehemann ins Bild setzen?«
»Vermutlich freut er sich zu hören, dass seine Frau nicht von den Wölfen gefressen wurde, sondern sich ein kleines Vergnü-
gen gönnt. Weiß man etwas über diesen Toomas? Ist die Frau möglicherweise in Gefahr?«
»Bei uns keine Vorstrafen. In Estland hat er ein halbes Jahr wegen wiederholten Betrugs abgesessen.«
»Mach den Esten Dampf. Vielleicht täuscht sich unsere Betriebswirtin über die Absichten ihres Galans.«
»Wieso fallen intelligente Frauen immer wieder auf solche Schwindler herein?«, fragte Wang, und ich konnte mir eine boshafte Bemerkung nicht verkneifen:
»Koivu ist jedenfalls kein Schwindler, im Gegenteil, er ist selbst zu oft an der Nase herumgeführt worden. Diesmal hoffentlich nicht.«
Als Wang wortlos auflegte, wurde mir klar, wie idiotisch ich mich benommen hatte. Koivus Frauengeschichten gingen mich nichts an. Solange er mich nicht um Rat fragte, hatte ich kein Recht, mich als fürsorgliche große Schwester aufzuspielen. Und warum musste ich Anu Wang vor den Kopf stoßen?
Ich schlug Harris Akte auf, breitete die Fotos von der Leiche vor mir aus und las den Obduktionsbericht noch einmal durch.
Nichts deutete darauf hin, dass Harris Tod kein Unfall war.
Mord war aber nicht ausgeschlossen: Wenn jemand von einem Felsen gestoßen wurde, blieben nicht unbedingt Spuren zurück.
Wie aber sollte ich das ein Jahr nach der Tat beweisen?
Als Nächstes nahm ich mir die Aufstellung von Harris Besitztümern vor, die auf Rödskär sichergestellt worden waren.
Spektiv, Fernglas, Fotoapparat, Laptop. Schlafsack, zwei Pullover, lange Unterhosen, Wollsocken … Moment mal!
Ein Laptop Marke Olivetti. Wo hatte ich so was kürzlich erst gesehen?
Auf Mikke Sjöbergs Boot.
Natürlich konnte es reiner Zufall sein, aber ich hatte mich ja bereits gefragt, was Mikke auf seinem Boot, ohne Stroman-schluss, mit einem Computer anfing. Ich musste herausfinden, was aus Harris Laptop geworden war. Koivu hatte auf der Festplatte nach dem Abschiedsbrief eines Selbstmörders gesucht. Aber vielleicht war dort etwas ganz anderes gespeichert gewesen: ein Hinweis auf den Mörder.
Ich suchte die Telefonnummer von Harris Eltern heraus.
Wenn ich mich als Hauptkommissarin Kallio vorstellte, würden sie mich vielleicht nicht mit der Jurastudentin Maria in Verbindung bringen, mit der ihr Sohn einige Monate lang befreundet gewesen war. Unsere einzige Begegnung lag zehn Jahre zurück, wahrscheinlich erinnerten sie sich gar nicht mehr an mich.
Meine Überlegungen waren müßig, denn es meldete sich niemand. Koivu würde die Immonens bei nächster Gelegenheit besuchen müssen. Aber selbst wenn wir den Laptop ausfindig machen sollten, waren Harris Dateien vermutlich längst ge-löscht.
Ich wollte mir gerade in der Kantine ein Brötchen holen, als das Handy klingelte.
»Pekka hier, hallo!« Schon der hastig ausgestoßene Gruß verriet, dass Koivu wichtige Neuigkeiten hatte. »Die Angaben über die Mare Nostrum liegen tatsächlich im Bankschließfach.
Sie hat ihren Sitz an zwei Orten: in Saint Peter Port auf Guernsey und in Wilna in Litauen. Die Firma hat drei Aktionäre, von denen zwei allerdings nur je fünf Prozent der Aktien besitzen.
Bei den Kleinaktionären handelt es sich um die litauischen Staatsbürger Vitalis Ramanauskas und Imants Peders. Und jetzt halt dich fest: Hauptaktionär ist ein gewisser Juha Merivaara!«
Vierzehn
Am späten Nachmittag kam ich so gut gelaunt nach Hause wie seit langem nicht mehr. Ich hatte die litauische Polizei um Amtshilfe bei der Suche nach Ramanauskas und Peders gebeten und anschließend mit Puupponen am Kaffeeautomaten darüber gewitzelt, wie international unser Dezernat neuerdings war –
Kontakte mit der estnischen und der litauischen Polizei sowie mit Scotland Yard, und das alles an einem Tag.
Koivu hatte versprochen, sich bei Harris Eltern nach dem Verbleib des Computers zu erkundigen. Außerdem sollte er Seija Saarela, wenn sie am Freitag zur Vernehmung kam, nach Mikkes Olivetti fragen.
Als ich nach Hause kam, saßen Antti und Iida gerade bei einem kleinen Imbiss. Iida wollte ihr Blaubeerkompott unbedingt selbst löffeln, wobei mindestens die Hälfte auf ihrem Lätzchen oder
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