Der Wind über den Klippen
auch.«
»Sein Blutalkohol lag unter dem damaligen Limit. Vielleicht hätte er ausweichen können, wenn er nüchtern gewesen wäre, vielleicht auch nicht. Womöglich ist Aaro absichtlich vor das Segelboot gerast. Für mich spielte das keine Rolle. Er war der Vater meines Sohnes, aber davon abgesehen war er mir längst fremd geworden.«
Wütend nahm sie einen zweiten violett leuchtenden Amethyst zur Hand und brachte den nächsten Haken an. Eines der Mädchen kam mit Arnika-Lippenbalsam zur Kasse. Ich überlegte, ob ich Seija Saarela gleich mitnehmen sollte, entschied mich aber dagegen, weil ich keine handfesten Beweise gegen sie hatte.
»Wollen Sie etwa behaupten, es sei purer Zufall gewesen, dass Sie sich mit den Merivaaras angefreundet haben?«, fragte ich, als sie kassiert hatte.
»Gibt es überhaupt so etwas wie Zufall? Vielleicht war es Schicksal.«
»Als Sie Mikke kennen gelernt haben, wussten Sie also nicht, dass er Juha Merivaaras Bruder war?«
»Sein Stiefbruder. Nein. Und als ich es erfuhr, waren wir schon gute Freunde. Da spielte es keine Rolle mehr.«
»Wissen Mikke und Anne, dass der Verunglückte Ihr geschiedener Mann war?«
»Mikke weiß es. Anne habe ich es nicht erzählt, Juha hat ihr ohnehin genug Kummer bereitet.«
Die Mädchen drängten sich um die Steintruhe.
»Echt cool, der Amazonit, den muss ich haben«, rief eine, worauf alle anderen auch einen Stein kauften. Es war unmöglich, weiter mit Seija zu reden, weil pausenlos neue Kunden hereinkamen. Also sagte ich ihr, sie müsse eine offizielle Aussage machen, jemand aus unserem Dezernat werde einen Termin mit ihr vereinbaren.
Aus einem plötzlichen Impuls heraus bat ich sie, mir ebenfalls einen Amazonit herauszusuchen. Der Name gefiel mir auch dann noch, als sie mich belehrt hatte, er gehe auf eine Ver-wechslung mit dem grünen Nepherit zurück, der am Amazonas gefunden wurde. Obwohl der Amazonit also nichts mit den sagenhaften starken Frauen zu tun hatte, drehte ich ihn zufrieden zwischen den Fingern, als ich die Treppe hinunterging. Er fühlte sich kühl und warm zugleich an. Als ich ihn in die Jackentasche steckte, merkte ich, dass dort bereits ein Stein lag: der quarzge-streifte rote Granit, den ich, ohne weiter darüber nachzudenken, in Rödskär aufgelesen hatte. Im Vergleich zu dem blank polierten Amazonit war der Granit rau und lauwarm, nur die Quarzeinsprengsel fühlten sich wärmer an.
Als Mittagessen holte ich mir bei Mövenpick ein Hörnchen mit zwei Kugeln Schokoladeneis. Die Portion hatte garantiert nicht weniger Kalorien als die von den Gesundheitsexperten empfohlene Hauptmahlzeit. Dann fuhr ich zurück zum Präsidium. Seija Saarela und die toten Eiderenten spukten mir im Kopf herum, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Da gab es nur eine Lösung: Ich beschloss, auf der Stelle die im Arbeitsver-trag vorgesehene Fitnesspause in Anspruch zu nehmen. Danach würde mein Gehirn hoffentlich wieder funktionieren. Ich zog das Trikot, die Leggings und die alten Turnschuhe an, die im Schrank lagen, band die Haare zusammen und war bereit für den Kraftraum im Keller des Präsidiums. Vorsichtshalber nahm ich jedoch das Handy mit, denn Koivu und Puustjärvi wollten sich sofort melden, wenn sie etwas über den Besitzer der Mare Nostrum herausgefunden hatten. Stand das Unternehmen womöglich in Kontakt zur Revolution der Tiere? Vielleicht hatte Juha Merivaara die Organisation über Strohmänner unterstützt.
Oder er hatte nicht gewusst, dass die Leute, die hinter der Mare Nostrum standen, auch die RdT finanzierten.
Ich strampelte mich eine Viertelstunde auf dem Hometrainer ab, dann ging ich in die Boxecke. Pam, pam, pam, ich drosch auf den Sandsack ein und stellte mir vor, er wäre Ari Väätäinen.
Oft hatte mir der Sandsack als Ersatz für Pertti Ström gedient, ein paar Mal auch für Antti. Eigentlich hätte ich beim Boxen gern Musik gehört, alte Punksongs von Eppu Normaali oder den Dead Kennedys wären genau das Richtige gewesen. So aber begnügte ich mich damit, meine Schläge mit einem blutrünstigen Knurren zu untermalen, was mir verwunderte Blicke von den Männern des Hundertkiloclubs der Schutzpolizei eintrug, die sich auf der Ringermatte abmühten.
Anschließend trainierte ich die Oberschenkel und die Bauchmuskeln, die nach der Schwangerschaft immer noch nicht in alter Form waren. Nachdem ich mich eine Stunde lang ausgetobt hatte, war ich wieder fähig, an die Arbeit zu gehen. Als Erstes holte ich Harris Akte, doch
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