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Der Wind über den Klippen

Der Wind über den Klippen

Titel: Der Wind über den Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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ausgiebig bewundert hatte. »Du hast ausgesagt, du hättest Harri Immonen nicht gekannt, dabei wart ihr beide Mitglied des ornithologischen Vereins in Tapiola.«
    Holma, der auf die Bucht gestarrt hatte, drehte sich um und sah mich verwundert an.
    »Tatsächlich? Ich habe ihn wirklich nicht gekannt. Ich bin zwar Vereinsmitglied, habe aber nur gelegentlich an den gemeinsamen Veranstaltungen teilnehmen können, weil ich meistens in Deutschland war.«
    »Na gut, aber ihr seid dem Verein beide vor mehr als zehn Jahren beigetreten, und Harri war unter Ornithologen ziemlich bekannt. Versuch doch mal, dich zu erinnern!«
    Einer der weißen Zwergsäger schwang sich plötzlich auf und flog ans Ufer. Holma trat an sein Fernrohr, machte einen Schwenk und beobachtete den Vogel.
    »Ein prächtig gemusterter Schnabel. Willst du mal sehen?«
    »Nein danke. Am Freitag habe ich mit Jiri Merivaara gesprochen und erfahren, dass es zwischen dir und Riikka aus ist. Er meint, sie hätte dich verlassen, weil sie dich für den Mörder ihres Vaters hält.«
    Das Fernrohr entglitt ihm, doch er konnte das Stativ im letzten Moment festhalten. Als er mich ansah, war sein Gesicht nicht mehr jungenhaft.
    »Jiri redet Unsinn. Keiner hat irgendwen verlassen. Sagen wir, die Beziehung ruht, und das hat mit dem seligen Juha Merivaara nicht das Geringste zu tun. Natürlich wäre es Jiri lieber, wenn ich der Schuldige wäre und nicht seine Mutter oder Mikke.«
    Er justierte das Fernrohr und sah wieder hindurch. Der weiße Zwergsäger lieferte sich vor dem strahlend blauen Himmel einen Wettflug mit einer grauschwarzen Krähe. Als die beiden Vögel an den leuchtend gelben Bäumen am Ufer entlangflogen, hatte ihr Gefieder plötzlich einen ganz anderen Ton als vor dem blauen Hintergrund.
    »Im Herbst ist es mir mittlerweile noch wichtiger, Vögel zu beobachten. Im Sommer überlagern sich ihre Stimmen gewissermaßen, aber im Oktober klingt selbst das Krächzen einer Krähe wie eine Serenade«, sagte Holma leise. »Natürlich ist es wunderschön, wenn im Frühling die Zugvögel eintreffen und die Welt plötzlich voller Töne ist, aber aus irgendeinem Grund hat mich ihr Abflug im Herbst immer besonders interessiert.«
    »Riikka hat also Schluss gemacht. Warum?«
    Holma schwenkte das Fernrohr, sodass er mich im Visier hatte, eine zugleich kindische und drohende Geste. Ich schob es weg, denn ich wollte sein Gesicht sehen, wenn er antwortete.
    »Kannst du dir das nicht denken? Riikka meint, ich wäre zu alt für sie. Sie behauptet, ich würde sie ohnehin verlassen, wenn meine Stimme wiederhergestellt ist. Die Ärzte sind zuversicht-lich, sie glauben, dass die Operation erfolgreich sein wird und meine Stimmbänder schon im nächsten Frühjahr ausgeheilt sind.
    Nur bin ich nicht mehr sicher, ob ich den Beruf wirklich wieder aufnehmen will, diesen höllischen Kampf um jedes Engagement, den entsetzlichen Druck, unter dem man jedes Mal steht, wenn man sich in eine Rolle einlebt. Seija Saarela behauptet, meine Stimme hätte gestreikt, weil ich im Grunde nicht mehr singen möchte. Vielleicht hat sie Recht.«
    Er fuhr sich durch die Haare, diesmal wirkte die vertraute Geste gequält.
    »Natürlich habe ich die ganze Zeit gewusst, dass unsere Beziehung nicht von Dauer sein kann. Einundzwanzig Jahre Altersunterschied, das ist viel, obwohl ich die Distanz nicht für unüberwindlich halte. Aber Riikka war recht unerfahren, sie hatte ja noch nie einen Freund gehabt. Damit will ich nicht sagen, dass ich ihr die Jungfernschaft geraubt habe, aber beinahe
    …« Er brachte es fertig zu erröten. »Nach Suzanne kam mir Riikka frisch und außergewöhnlich vor, und ich habe mich aufgeführt wie ein Pennäler …«
    »Wenn wir verliebt sind, werden wir wohl alle wieder jung.
    Du lässt dich also operieren?«
    »Ja. Ich fliege nach Kalifornien, sobald die Polizei mir grünes Licht gibt.«
    Ich konnte mir Holma eigentlich nicht als perfiden Rächer vorstellen, der sich nach Harris Tod in die Familie Merivaara eingeschlichen hatte, aber vorläufig stand er noch unter Verdacht. Vielleicht hatte er seine Auseinandersetzung mit Juha in der Nacht fortgesetzt.
    »In der Mordnacht soll an deinem Arm eine Wunde aufgetaucht sein. Darf ich die mal sehen?«
    Er warf mir einen wütenden Blick zu, bevor er den Ärmel hochschob. Der blaue Fleck am Unterarm war kaum noch zu erkennen.
    »Du hast mit Riikka gesprochen. Du solltest ihr nicht alles glauben. Den blauen Fleck hat mir Juha vor dem Essen in

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