Der Wind über den Klippen
gelegt und war nach Hause gefahren. Die Telefonnummer meiner Schwiegerel-tern in Inkoo kannte niemand im Präsidium außer Koivu, der ebenfalls ein freies Wochenende hatte.
Den ganzen Samstag über hatte es gestürmt, doch das hatte uns nicht davon abgehalten, nach dem Mittagessen Regenkleidung anzuziehen und Iidas Wagen wasserdicht abzudecken. Wir hatten einen Ausflug in den nahe gelegenen Wald gemacht und nach einer Weile die ersten Trompetenpfifferlinge im Moos entdeckt. Als ich ein Stück vom Pfad abgewichen war, um eine Plastiktüte aufzuheben, die irgendein Idiot in den Wald geworfen hatte, war ich auf eine Stelle gestoßen, an der Pfifferlinge in Hülle und Fülle wuchsen. Nun garte im Ofen eine Pilzpastete.
Ich hatte es fertig gebracht, fast den ganzen Tag lang nicht an die Arbeit zu denken. Das Hauptverdienst kam Iida zu, die plötzlich ihr Plappermäulchen entdeckt hatte. Während sie bisher nur einzelne Wörter von sich gegeben hatte, produzierte sie nun Dreiwortsätze: »Iida will essen«, »Mama Milch geben«.
Antti und ich hatten ihr fasziniert zugehört, in unseren Ohren klangen ihre Sätze bezaubernder als die Sentenzen der größten Dichter. Iida hatte uns mit ihrem ersten Lächeln, mit Krabbeln, Aufstehen und den ersten Schritten so erfreut und überrascht, dass wir ihr jedes Mal stundenlang mit dümmlich-glücklichem Gesicht zugeschaut hatten. Zwar hatten wir diese Augenblicke nicht auf Video und nur selten auf Fotos festgehalten, doch ich war sicher, ich würde sie nie vergessen.
Als ich nach der Sauna den Fernseher anschaltete, brachten alle Sender Krimiserien, und ich stellte den Kasten gleich wieder aus, um nicht an die Arbeit erinnert zu werden. Antti schlief bald ein, ich hörte seine gleichmäßigen Atemzüge und Iidas leises Schnaufen. Mich hatte das Sandmännchen offenbar vergessen, ich wälzte mich im Bett hin und her und lauschte dem brüllenden Meer. Der Leuchtanzeiger des Weckers zeigte halb eins, als ich beschloss, aufzustehen und eine Weile an die frische Luft zu gehen. Ich zog unter dem Regencape drei Lagen Kleidung an, das Thermometer zeigte ein Grad über null.
Der Wind machte mich im Nu restlos wach, ich ging den Strandweg hinauf, höher und höher. Einige hundert Meter vom Grundstück der Saarelas ragte eine schroffe Felswand auf, unter der das scheinbar grenzenlose Meer tobte. Im Westen leuchteten die Doppeltürme des Kraftwerks, im Osten zeigten vereinzelte Lichter den Verlauf der Küstenlinie bei Porkkala an. Das Meer kümmerte sich um niemanden, es kämpfte mit dem Wind und warf seine Wellen auf das Ufergeröll. Es hatte die Blaualgen besiegt, und nun stand ihm der immer wiederkehrende Kampf mit dem Winter bevor. Im letzten Dezember waren wir gerade in der Nacht in Inkoo gewesen, als die offene See zufror. Das Meer hatte schmerzvoll geheult, als es unter die kalte Haut gezwungen wurde, während das Eis triumphierend knirschte und knackte, als hätte der Winter zur Feier seines Sieges Sektkorken springen lassen.
Ich dachte an Juha Merivaara, der vor zwei Wochen auf den Felsen von Rödskär gestorben war. Die Nacht war regnerisch und stürmisch gewesen wie jetzt. War auch Juha auf der Suche nach dem Sandmännchen nach draußen gegangen und stattdes-sen auf seinen Mörder gestoßen? Auch an Mikke Sjöberg musste ich denken, der in Suomenoja auf der »Leanda« schlief, obwohl er eigentlich bereits an der Westküste Dänemarks vorbeisegeln wollte. Der Südwind trieb die Wellen immer höher und versuchte mich umzuwerfen. Ich breitete die Arme aus und ließ das Regencape wie Flügel flattern. Wie ein Stromstoß durchfuhr der Sturm meinen Körper, und wie zuvor im eiskalten Meer spürte ich, dass ich lebendig war, dass ich feste Muskeln, weiche Kurven, warmes, dickes Blut besaß. Ich ging zurück ins Haus und fiel in tiefen, friedlichen Schlaf.
Am nächsten Tag stand Juha Merivaaras Todesanzeige in der Zeitung, die Beerdigung sollte am kommenden Samstag stattfinden. Der Sinnspruch in der Anzeige wirkte seltsam unpersönlich, es war eine beliebige Zeile aus einem Kirchenlied, als hätte Anne Merivaara weder Zeit noch Lust gehabt, passende Worte auszuwählen. Vielleicht hatte sie ihre Sekretärin Paula Saarnio beauftragt, einen Vers auszusuchen, in den man auf keinen Fall einen Hinweis auf einen gewaltsamen Tod hineinle-sen konnte.
Ob Pertsa am selben Wochenende beerdigt wurde? Auch wenn ich seine Abscheu vor Begräbnisfeiern verstand, hatten die Rituale ihren Sinn; geteilte
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