Der Wind über den Klippen
einem Restaurant an der Promenade Anglaise in Nizza zu Abend gegessen.
An Zeugen herrschte kein Mangel.
»Antti, nimm mir Iida ab!«, rief ich schon zum sechsten Mal, denn die Kleine schrie so laut, dass der korsische Kollege mich kaum noch verstehen konnte. Ich fragte ihn nach der Telefonnummer des litauischen Bootes.
Antti kam polternd aus der Küche und trug die umso heftiger schreiende Iida hinaus. Die Aussicht, ihm beim Backen helfen zu dürfen, schien sie nicht zu trösten. Als das Gespräch beendet war, ging auch ich in die Küche. Iidas Gesicht war tränenüberströmt, doch sie patschte zufrieden auf ein mehlbestäubtes Brot.
»Wenn du von der Arbeit kommst, klebt das Kind nun mal an dir, das musst du doch verstehen!«, giftete Antti. Auch er hatte Mehl im Gesicht.
»Ja, schon gut, aber diese eine Sache musste ich unbedingt heute Abend noch erledigen. Ein einziges Gespräch noch, dann kann ich Iida übernehmen.«
Dann hatte ich wieder einmal vergeblich versucht, Mikke Sjöberg zu erreichen und schließlich die zuständige Streife gebeten, im Hafen von Suomenoja nachzusehen, ob die »Leanda« noch vor Anker lag. Kurz darauf hatte ich die Meldung erhalten, sie sei am Bootssteg vertäut und in der Kajüte brenne Licht. Bei der Vorstellung, dass Mikke frierend und allein auf seinem Boot hockte, war mir schwer ums Herz geworden, doch ich hatte mir verboten, weiter über ihn nachzudenken.
Unter den Wolken tauchten die Lichter von Turku auf. Mein Magen, der etwas gegen Flüge am frühen Morgen hatte, zog sich krampfhaft zusammen, als die Maschine an Höhe verlor.
Mir brach kalter Schweiß aus, und der dünne Kaffee, den man uns serviert hatte, stieß mir sauer auf.
Im Osten leuchteten die ersten Sonnenstrahlen, doch unsere Maschine flog nach der Zwischenlandung in die Dunkelheit.
Das Meer war grau und kältestill, die Inseln ragten golden oder preiselbeerrot heraus, als wollte die Welt sich noch einmal schmücken, bevor sie braun und schließlich schneeweiß wurde.
Sicher waren Antti und Iida jetzt gerade in der Küche und kochten den Frühstücksbrei. Warum hatte ich ein schlechtes Gewissen, anstatt es zu genießen, im Flugzeug zu sitzen, wo kein Familienmitglied, kein Kollege oder Zeuge etwas von mir wollte, wo man mir im Gegenteil Kaffee vorsetzte und die leere Tasse abräumte, ohne dass ich auch nur darum zu bitten brauchte?
Hatte ich die Dienstreise womöglich auf mein Programm gesetzt, um allein zu sein? Denn danach sehnte ich mich, nach der Freiheit, mit niemandem reden zu müssen, die ich sonst nur auf dem Weg zwischen zu Hause und Arbeitsplatz hatte, und danach, nicht ständig von anderen in Anspruch genommen zu werden. Hatte ich meine Kräfte überschätzt, als ich den Posten der Dezernatsleiterin angenommen und geglaubt hatte, ihn mit der Versorgung eines Kleinkindes verbinden zu können?
Wir hatten ab und zu überlegt, ob Iida Geschwister bekommen sollte. Im Moment schien es mir allerdings unmöglich, wieder mit der Arbeit auszusetzen. Meine Schwestern versuchten mir einzureden, Einzelkinder würden kleine Egoisten, aber ich hatte schon früher gemerkt, dass sie nicht immer Recht hatten.
Die Maschine flog einen Bogen nach Süden, und plötzlich stand die aufgehende Sonne vor mir wie ein unermessliches Feuerwerk in dunkelgelben und tiefroten Tönen. Die Farbe fiel vom Himmel auf das Meer, verwandelte das Totengrau in Goldblau, ließ die Granitklippen in tiefem Rubinrot aufleuchten.
Ich hätte stundenlang zusehen mögen, wie die Farben ineinander übergingen und die Sonne Schatten über das Meer jagte. Doch die Hauptinsel von Åland lag bereits vor uns, und aus dem Lautsprecher kam die Ansage, die Maschine werde in fünf Minuten in Mariehamn landen.
Der Mietwagen stand am Flughafen bereit. Zum Hafen von Svinö, wo ich um zehn Uhr die Autofähre erreichen musste, waren es gut zwanzig Kilometer. Ich hätte Zeit für einen Abstecher ins Zentrum von Mariehamn gehabt, zog es aber vor, in aller Ruhe nach Svinö zu fahren und die Landschaft zu genießen. Die Straße führte durch herbstbraune Felder und gelblich gefärbte Wälder, ab und zu erhaschte ich einen Blick auf das tiefe Blaugrün des Meeres. Die Häuser waren vorwiegend aus Holz gebaut und hellgelb oder dunkelrot angestrichen, die Felder sauber umgepflügt. An schattigen Stellen waren sie bereift.
Die Kaffeestube am Fährhafen war leer, wahrscheinlich hatte sie nur im Sommer geöffnet. Am Steg lag ein verlassener Prahm, blühendes
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