Der Wind über den Klippen
längst vernichtet. Hoffentlich hatte die Sekretärin über Reservierungen und Verhandlungen Buch geführt. Anne rief sie herein und bat sie, die Reiseunterla-gen vom letzten Jahr durchzusehen.
»Gesprächstermine stehen im Kalender, die Reisekostenab-rechnungen sind in der Buchführung. Einen Augenblick, ich sehe nach.«
»Glaubst du wirklich, Juha könnte etwas mit Harris Tod zu tun haben?«, zischelte Anne, als Paula die Tür hinter sich geschlossen hatte. Als ich keine Antwort gab, fuhr sie fort:
»Weißt du, weshalb ich dachte, Harri hätte sich das Leben genommen? Wegen eines Anrufs, von dem Katrina mir erzählt hat. Mikke hatte Harri ja auf Rödskär abgesetzt und war dann nach Åland zu seiner Mutter gefahren. Harri hatte von der Insel aus mit Katrina telefoniert und gesagt, Mikke solle ihn gleich nach seiner Ankunft zurückrufen. Sie hat aber vergessen, es ihm auszurichten, und erinnerte sich erst wieder daran, als Mikke schon in dänischen Gewässern segelte und Harri tot aufgefunden worden war. Katrina sagte, Harri hätte ängstlich gewirkt. Sie spricht nicht gern über sich, aber ich glaube, die Sache geht ihr immer noch nach. Wahrscheinlich befürchtet sie, dass Harri Selbstmord begangen hat, und überlegt, ob ein Rückruf von Mikke ihn daran gehindert hätte.«
Annes Bericht klang verworren, wie ein verzweifelter Versuch, die Schuld an Harris Tod jemand anderem zuzuschieben als ihrem Mann. Dennoch musste ich mit Katrina Sjöberg sprechen. Um welche Zeit ging die erste Maschine nach Mariehamn? Wenn ich schon nicht nach Korsika kam, konnte ich wenigstens auf eine etwas näher gelegene Insel fliegen. Wen von meinen Kollegen sollte ich mitnehmen? Die Gedanken schossen mir durch den Kopf, ziellos wie aus ihren Käfigen befreite Pelztiere. Kurz darauf erschien Paula Saarnio mit verblüfftem Gesicht an der Tür.
»Ich finde keine Notiz über Verhandlungen in Tallinn am dritten Oktober letzten Jahres, auch keine Tickets für die Fähre.
Anne, bist du sicher, dass Juha an dem Tag einen Termin in Estland hatte?«
»Ja! Er war über Nacht auf der Fähre und hat Champagner und Kaviar mitgebracht!«, stieß Anne hervor, doch ihre Stimme schwankte. Ich betrachtete ihre Hände, erinnerte mich an ihren festen Griff. Vielleicht hatte sie gewusst, dass ihr Mann Harri getötet hatte, womöglich hatte sie auch herausgefunden, warum.
Juhas Seitensprünge hatte sie toleriert, doch dass er hinter der makellosen Fassade der Merivaara AG unsaubere Geschäfte trieb, war zu viel gewesen. Hatte sie ihren Mann umgebracht, als ihr klar wurde, dass das Familienunternehmen bleihaltige Farbe nach Litauen exportierte?
Ich wusste noch nicht genug über die Bedeutung der Farbdose, die Jiri gefunden hatte. Daher beendete ich die Befragung und fuhr zurück ins Büro, um den Flug nach Mariehamn zu buchen.
Ich fluchte ausgiebig, als ich erfuhr, dass die Maschine um sieben Uhr zwanzig abflog, sodass ich schon vor sechs aufste-hen musste. Ich vergewisserte mich, Katrina Sjöberg zu Hause anzutreffen, bestätigte die Reservierung und bestellte einen Mietwagen. Gleich darauf kam ein Anruf vom kriminaltechnischen Labor.
»Es geht um die Farbe, die ihr uns geschickt habt. Woher habt ihr die?«
Ich sagte, ich wisse es nicht, vermute aber, sie stamme aus den Beständen der sowjetischen Marine.
»Wir haben noch nicht alle Analysen durchgeführt, aber schon jetzt steht fest, dass die Farbe Tributylzinn enthält«, erklärte der Kriminalchemiker Niinimaa fröhlich.
»Tributylzinn? Was ist das?«
»Eine Organozinnverbindung, die man früher für Bootslacke verwendet hat, um die Verschmutzung der Außenwände zu verhindern.«
»Himmelherrgott nochmal!«, sagte ich aus tiefstem Herzen, worauf der erfahrene Niinimaa fragte:
»Passt das nicht in deine Theorie?«
»Nur zu gut. Handelt es sich um eine verbotene Chemikalie?«
»Die Helsinki-Konvention von 1988 untersagt die Verwendung in Lacken, aber soweit bekannt, wurde Tributylzinn in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion auch danach noch eingesetzt.«
»Auswirkungen, in Kurzfassung?«
»Die sind bisher kaum erforscht, aber man hat zum Beispiel männliche Geschlechtsmerkmale an weiblichen Schnecken beobachtet. Bei Forellen wurden Veränderungen des Blut- und Lebermetabolismus und an den Augen festgestellt. Bei hoher Konzentration wird der Laich der Lachse zerstört. Es gibt auch Berichte über tote Miesmuscheln und über den Verfall des Immunsystems bei Vögeln, die sich von
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