Der Wind über den Klippen
es auszufüllen.
»Nun stell deine Fragen«, sagte sie, als wir die Mäntel abgelegt hatten und ich die Schuhe gegen die dicken Wollsocken eingetauscht hatte, die Katrina mir brachte. »Es muss ja sehr wichtig sein, wenn du extra herkommst.«
»Ist es dir recht, dass ich unser Gespräch aufnehme?«
Da sie nicht protestierte, kramte ich einen kleinen Recorder und zwei Kassetten aus der Tasche und sprach Datum und Uhrzeit aufs Band, obwohl es mir unwirklich vorkam, in diesem jahrhundertealten, friedlichen Raum eine Vernehmung durchzuführen.
»Ich habe mehrere Fragen. Gehen wir als Erstes ein Jahr zurück. Harri Immonen hat kurz vor seinem Tod hier angerufen, weil er Mikke erreichen wollte. Was hat er gesagt?«
Katrina fuhr sich durch die eisgrauen Haare. Im Herbstlicht waren auch ihre Augen grau wie das Meer am Morgen.
»Das ist schon ein ganzes Jahr her, ich erinnere mich nicht mehr genau. Jedenfalls sollte Mikke sich so schnell wie möglich mit ihm in Verbindung setzen.«
»Wie hat er sich angehört?«
»Ganz anders als der ruhige, sympathische junge Mann, dem ich ein paar Mal begegnet war. Verstört. Er hat extra betont, es sei wichtig. Und ich Rindvieh habe seinen Anruf völlig vergessen!«
Sie seufzte, die Falten um ihre Augen spannten sich. »Ich fühle mich schuldig, weil ich vergessen habe, Mikke von dem Anruf zu erzählen. Deshalb habe ich ihn auch nicht sofort über Harris Tod informiert, ich hatte Angst vor seiner Reaktion.
Manchmal bin eben auch ich feige. Mikke ist der einzige Mensch, der mir wirklich etwas bedeutet. Wenn Harri Selbstmord begangen hat, und wenn ich seinen Tod hätte verhindern können, indem ich seine Nachricht an Mikke weiterleitete …
Der Gedanke ist fast unerträglich.«
»Ich glaube nicht, dass Harri sich das Leben genommen hat«, sagte ich tröstend und verschwieg vorläufig, dass die Weiterlei-tung der Nachricht ihm dennoch möglicherweise das Leben gerettet hätte. »Hat er irgendwelche Andeutungen gemacht, worum es ging? Bitte versuch dich zu erinnern, es ist wichtig.«
Vom Herd stieg mir der Geruch von Fischsuppe in die Nase.
Katrina stand auf und nahm den Topf von der Platte. Sie rührte ein paar Mal um, bevor sie antwortete:
»Es ging um Juha. An den genauen Wortlaut erinnere ich mich nicht mehr, aber Harri wollte mit Mikke über Juha sprechen.«
»Du hast Juha gekannt, seit er zehn Jahre alt war. Was für ein Mensch war er?«
Sie schmeckte die Brühe ab und verbrannte sich dabei die Zunge. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder sprechen konnte.
»Genusssüchtig und eigensinnig wie sein Vater. Martti war faul, deshalb ging es mit seinem Unternehmen bergab. In der Hinsicht war Juha aus anderem Holz geschnitzt. Er liebte das Geld. Mit zwölf hat er mir erklärt, wie er das Erbe seiner Mutter anlegen wollte, wenn er volljährig wurde. Von Geschäften verstehe ich ja auch einiges, und ich muss sagen, seine Pläne waren ausgesprochen intelligent. Er war noch ein Kind, doch er erkannte ganz genau, warum das Erbteil von Treuhändern und nicht von seinem Vater verwaltet wurde. Juha hatte große Ähnlichkeit mit Martti, aber ihm fehlte dessen unglaubliche physische Anziehungskraft. Ihretwegen habe ich mich damals in Martti verliebt.«
Sie setzte sich wieder an den Tisch, das hereinfallende Tageslicht webte ein ruheloses Netz von Falten über ihr Gesicht. Ich schob den Recorder näher an sie heran. Eigentlich hätte ich nach den Ereignissen auf Rödskär fragen müssen, statt mir die Familiengeschichte erzählen zu lassen, aber aus irgendeinem Grund glaubte ich, in diesen alten Geschichten Antworten auf Fragen zu finden, die ich noch gar nicht zu formulieren wusste.
»Von Marttis beiden Söhnen ist Mikke derjenige, der seine …
seinen Sex-Appeal geerbt hat, so würde deine Generation es wohl nennen. Sie sind nicht eigentlich gut aussehend, aber sie haben etwas an sich, dem ich jedenfalls nicht widerstehen konnte. Ich kann es nicht richtig erklären. Aber Sex allein reicht auf längere Sicht nicht, wenn in der anderen Waagschale die Rolle der biederen Hausfrau und der vollständige Verzicht auf eigene Träume liegen. Ich bin nie fähig gewesen, Kompromisse zu schließen, und ich fürchte, ich habe auch Mikke zu einem Menschen erzogen, der allzu stur seine eigene Route segelt. Das muss ich jetzt büßen: Ich sehe ihn nur selten, und jedes Wieder-sehen kann das letzte sein.«
Sie schwieg einen Moment, dann drückte sie den Rücken durch und sagte: »Die
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