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Der Wind über den Klippen

Der Wind über den Klippen

Titel: Der Wind über den Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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wenig.«
    Mikke war blass, unter dem Pflaster auf der linken Handfläche sickerte Blut hervor. Wie nah hatten sich die Stiefbrüder gestanden? Altersmäßig waren sie zwölf Jahre auseinander, und sie waren nicht unter einem Dach aufgewachsen, doch das hatte nicht unbedingt etwas zu bedeuten.
    »Du hast deinen Anteil an der Merivaara AG vor einigen Jahren an deinen Bruder verkauft. Warum?«
    Über sein müdes Gesicht flog ein rasches Lächeln, das ihn völlig veränderte. Mikke hatte zwar nicht die Gesichtszüge seiner Mutter geerbt, doch im Mienenspiel und in ihrem sehnigen Körperbau waren sie sich sehr ähnlich.
    »Ich tauge nicht zum Büroschimmel! Als Junge habe ich mir eingebildet, es wäre meine Pflicht, das Familienunternehmen weiterzuführen. Deshalb habe ich Schiffsbautechnik studiert, aber die Theorie interessierte mich nicht. Als ich achtundachtzig Examen gemacht hatte, wusste ich, dass Management nichts für mich ist. Ich habe bei der Marine meine Wehrpflicht abgeleistet, was mir eine Denkpause verschaffte, und danach habe ich Juha meine Aktien verkauft.«
    »Du hast dich also nicht zum Verkauf entschlossen, weil du glaubtest, die Zusammenarbeit mit deinem Bruder würde sich problematisch gestalten?«
    Hatte ich mir nicht gerade vorgenommen, Suggestivfragen zu vermeiden?
    »Nein, ich wollte einfach Geld für eine Weltumseglung. Ich bin ein reicher Müßiggänger, der ohne eigenes Dazutun einen Haufen Geld bekommen hat und den Winter in tropischen Gewässern verbringt, während die Arbeitslosen frierend bei der Armenspeisung Schlange stehen und anständige Menschen im Schneeregen zur Arbeit hetzen.«
    In seiner Stimme lag die gleiche Schärfe wie damals, als er gesagt hatte, keine Frau wolle einen Weltenbummler wie ihn.
    »Lebst du immer noch von dem Erlös der Aktien?«
    »Ich habe das Geld gut angelegt. Ab und zu arbeite ich auch, schreibe Artikel über meine Reisen, gebe Segelkurse und dergleichen. Im Frühsommer habe ich Geld verdient, indem ich reiche Japaner auf Segeltörns von Helsinki nach Tallinn mitgenommen habe. Meine Reisen kosten nicht viel, ich brauche keinen Luxus. Wenigstens fügt meine Lebensweise niemandem Schaden zu.«
    Das vielleicht nicht, aber sie macht die Leute neidisch, dachte ich. Wie viele Finnen mochten davon träumen, aus dem Alltag auszusteigen und ohne Zeitdruck und Berufssorgen in warmen Gewässern zu segeln? Allerdings war ein solches Leben sicher einsam – oder hatte Mikke in jedem Hafen eine Braut, wie es sich für einen richtigen Seemann gehört? Danach konnte ich ihn nun wirklich nicht fragen. Stattdessen erkundigte ich mich nach Juhas Herzbeschwerden.
    »Die hatte er, stimmt. Den ersten Infarkt bekam er Ende September letzten Jahres, kurz bevor ich zu meiner Winterreise aufgebrochen bin. Damals habe ich überlegt, die Abfahrt zu verschieben, aber er hat sich schnell wieder erholt. Um Neujahr herum hatte er wohl einen zweiten Infarkt, aber danach hat sich das Herz beruhigt. Juha hat angefangen, Squash zu spielen und sich überwiegend vegetarisch zu ernähren. Aber danach müsst ihr Riikka oder Anne fragen, ich war ja bis Ende Mai unterwegs.«
    Das Telefon im Vernehmungsraum klingelte. Als ich abhob, drang die Stimme des Pathologen aus dem Hörer.
    »Ich bin gerade dabei, Merivaara aufzuschneiden, man hat mir gesagt, du möchtest so schnell wie möglich die ersten Ergebnisse haben.«
    »Stimmt. Warte mal, ich geh an den anderen Apparat.«
    Ich erklärte Mikke und Koivu, dass wir die Befragung kurz unterbrechen müssten, und ging in den leeren Vernehmungsraum eins.
    »Die Todesursache ist eindeutig: Schädelbruch durch einen Schlag gegen die Schläfe. Der Tod ist vermutlich fünf bis acht Stunden nach seiner letzten Mahlzeit eingetreten.«
    Ich rechnete hastig nach: zwischen eins und vier also.
    »Blutalkohol eins Komma eins. Andere Rauschmittel sind bisher nicht nachgewiesen.«
    »Kannst du mir etwas über die Ursache des Schädelbruchs sagen? Wurde Merivaara erschlagen, oder ist er abgestürzt?«, unterbrach ich ihn ungeduldig.
    »Die schlimmsten Prellungen befinden sich am Stirnhirn, also am Vorderkopf. Wenn er abgerutscht wäre, hätte er eigentlich auf den Rücken fallen und mit dem Hinterkopf aufschlagen müssen. In der Wunde sind kaum Steinsplitter zu finden, wie sie beim Sturz vom Felsen zu erwarten wären. Das Wasser hat sicher einiges weggespült, aber das reicht als Erklärung nicht aus. Ich würde vermuten, er wurde erschlagen, und zwar nicht mit einem

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