Der Wind über den Klippen
von Juha Merivaaras Leichnam, die mir der Polizeifotograf gegeben hatte, und breitete sie auf dem Tisch aus.
»Du sagst, du hast deinen Bruder aus dem Wasser gezogen. Es wäre wichtig zu wissen, wie er lag, als du ihn gefunden hast.
Schau dir die Bilder in aller Ruhe an und sag mir dann, was an seiner Stellung anders ist.«
Es widerstrebte Mikke ganz offensichtlich, die Fotos von seinem toten Bruder zu betrachten. Ich sah, wie der Adamsapfel an seinem mageren Hals auf und ab hüpfte. Es klopfte, Kaffee und belegte Brote wurden gebracht. Koivu machte sich darüber her, als hätte er seit einer Woche nichts gegessen. Mikke schien die Kaffeetasse, die ich ihm hinschob, gar nicht zu bemerken, er sah durch die Bilder hindurch in eine Welt, zu der wir anderen keinen Zutritt hatten.
»Juha schwamm auf dem Bauch zwischen diesem großen Stein und dem Ufer. Die Arme hatte er ausgebreitet, der Kopf war blutig. Ich bin gestürzt und beinahe selbst ins Wasser gefallen. Dann bin ich so weit reingewatet, dass ich ihn an der Hose fassen konnte. Die Steine waren glatt, mir schwappte Wasser in die Stiefel. Ich habe Juha auf das Ufergeröll gezogen, damit er nicht abdriftet, und dann nach dem Puls getastet. Ich war furchtbar aufgeregt und konnte nicht klar denken. Erst als ich Mutter und Tapsa geweckt hatte, fiel mir ein, dass wir die Notrufzentrale alarmieren müssen. Mein eigenes Telefon war auf dem Boot, deshalb sind Tapsa und ich ans Ufer gegangen, um von seinem Handy anzurufen. Wir dachten uns, es wäre besser, Juha in Sichtweite zu haben, falls man uns Fragen stellte.«
Ich nickte und überlegte, warum es so vielen Menschen, besonders Männern, schwer fiel, zuzugeben, dass sie beim Anblick einer Leiche in Panik gerieten, was doch eine ganz natürliche Reaktion war. In unserer Welt wurde der Tod in abgesonderten Gebäuden isoliert, weit weg von den Blicken der Lebenden. Die Leichen, die das Fernsehen jeden Abend zeigte, waren unwirklich, sie rührten einen so wenig wie eine tote Fliege.
»Juhas Kleidung … Ist es dieselbe, die er gestern Abend anhatte?«
Mikke überlegte eine Weile. »Ich glaube, ja. Die Jacke hatte er zwar nicht an, als wir in der Küche saßen, aber die hat er sich wahrscheinlich übergezogen, als er nach draußen ging.«
Anne Merivaara hatte das Doppelbett gründlich zerwühlt. Wir mussten herausfinden, ob Juha letzte Nacht darin geschlafen hatte. Waren die Laken frisch gewesen, extra für dieses Wochenende mitgenommen? Wo befand sich Juhas Schlafanzug?
Die Techniker würden sich die Sachen genau ansehen müssen.
»Deine Mutter und Seija Saarela haben ausgesagt, du hättest noch ein Buch von deinem Boot geholt, als sie schlafen gingen.
Hast du gesehen, was Juha getan hat?«
»Er ist auch nach draußen gegangen, in die Büsche wahrscheinlich. Moment mal … Jetzt erinnere ich mich, er hat die Jacke mitgenommen. Ich habe mir einen Pullover übergezogen, weil der Wind so kalt war.«
»Wie lange warst du auf dem Boot?«
»Nicht lange, vielleicht fünf Minuten. Ich habe das Buch nämlich sofort gefunden. Bei dem vielen Zeug, das man für ein halbes Jahr mitnehmen muss, tut man gut daran, Ordnung zu halten, sonst dreht man unterwegs durch.«
»Ein halbes Jahr soll deine Reise dauern?«
»Ungefähr. Ich habe vor, nach Madeira zu segeln, da war ich noch nie. Im Januar und Februar soll es dort ruhig sein.«
Koivu hatte sämtliche Brote vertilgt und sich am letzten Bissen verschluckt. Ich stand auf und schlug ihm auf den Rücken, bis der würgende Husten verstummte. Danach blieb ich schräg vor dem Fenster stehen, sodass mein Gesicht im Schatten lag, während ich Mikkes Mienenspiel deutlich sehen konnte.
»Hast du in der Nacht irgendetwas Besonderes gehört?«
»Jiri ist irgendwann nach draußen gegangen«, sagte Mikke und begriff offenbar erst nachträglich, dass er den Jungen damit belastete. »Nur ganz kurz, ich bin wach geworden, als er aus dem Zimmer ging, und war noch nicht wieder eingeschlafen, als er zurückkam. Er war vielleicht eine Minute draußen.«
Ich dachte an das Motorengeräusch, von dem Katrina Sjöberg gesprochen hatte, wollte Mikke aber nicht direkt danach fragen, um seine Aussage nicht zu beeinflussen.
»Und sonst? Einer der anderen im Haus, Geräusche vom Meer, irgendetwas Ungewöhnliches …«
»Das Meer ist voller Geräusche. Auf der Fahrroute sind Tag und Nacht Frachtschiffe unterwegs. Ich hab nicht weiter darauf geachtet, ich habe sowieso nur leicht geschlafen, und viel zu
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