Der Wind über den Klippen
Arbeitszeiten bei der Kripo es ihm unmöglich machten, seine beiden Kinder allein zu erziehen.
Das Schlimmste für ihn war wohl, dass die Kinder Zutrauen zu ihrem Stiefvater gefasst hatten. Vielleicht fürchtete er, noch mehr aus dem Leben seiner Kinder ausgeschlossen zu werden, wenn ihre Mutter eine neue Familie gründete. Dass er nur Lähde von der Hochzeit seiner Exfrau erzählt hatte, war typisch Ström.
Einen Augenblick lang verspürte ich Mitleid mit ihm, das jedoch rasch verflog. Wir waren ohnehin überlastet, er konnte nach seinem freien Wochenende nicht einfach weitersaufen.
Zumindest hätte er anrufen und sich meinetwegen mit Hals-schmerzen herausreden sollen.
Lange würde ich mir Ausreden und ausgedehnte Sauftouren allerdings nicht gefallen lassen. Ich musste mit Pertsa reden, so unangenehm es mir war.
Gegen Mittag sollte der erste Bericht der Kriminaltechniker eintreffen. Ich schaltete den Computer ein und beantwortete per E-Mail zwei Anfragen der Helsinkier Kripo. Die elektronische Kommunikation sparte zwar Zeit, doch lieber hätte ich mit den Kollegen am Telefon gesprochen. Da ich schon einmal im Netz war, sah ich gleich nach, ob die Merivaara AG eine Homepage hatte.
Ich fand die URL und klickte sie an, wobei ich die langsame Verbindung verfluchte. Ich war von Natur aus ungeduldig und ärgerte mich jedes Mal, wenn irgendeine Maschine, egal ob Bankautomat oder Anrufbeantworter, mich warten ließ.
Auf der Homepage segelten zwei Boote über das sonnenbe-schienene Meer, das Menü bot Informationen über die Produkte der Firma, über Seefahrt und Ökologie sowie über die Leuchtturminsel Rödskär. Ich klickte die Ökologiesparte an.
Wer das Wasser liebt, dem muss daran gelegen sein, die schöne, unersetzliche finnische Natur zu schützen. Tausende von Seen und das herrliche Schärengebiet bilden ein Nationaleigentum, dessen Pflege unser aller Pflicht ist.
Deshalb bietet die Merivaara AG Ihnen umweltschonende Produkte: Bootslacke und -grundierungen, WC-Chemikalien und Schmierstoffe. Wir stützen uns dabei sowohl auf die solide Sachkenntnis unserer Forschungs- und Entwicklungsabteilung als auch auf die innige persönliche Beziehung jedes Mitarbeiters zum Wassersport. Segeltörns zur Insel Rödskär, die sich im Besitz unseres Unternehmens befindet, sind fester Bestandteil der Personalschulung.
Die chemische Zusammensetzung der Grundierung Ihres Bootes mag ein kleiner Faktor sein, doch aus winzigen Rinnsa-len werden große Flüsse. Wussten Sie übrigens, dass Ihr Boot keine Schutzgrundierung benötigt, wenn Sie überwiegend in Süßwasser fahren? Segelbooten, die speziell auf Binnenseen, etwa auf der Saimaa-Seenplatte, unterwegs sind, gibt der Sweet+Soft-Lack der Merivaara AG ausreichenden Schutz.
Auch unsere Grundierungen für Salzwasserbedingungen enthalten kein für die Meeresfauna schädliches Zinn.
Die Homepage wirkte notdürftig zusammengeschustert. Ich surfte weiter und fand Recyclingtipps und Hinweise auf umweltfreundliche Produkte für Wassersportler. Mit dem Etikett
»umweltfreundlich« konnte man Umweltbewussten fast alles verkaufen. Kaum jemand machte sich die Mühe, nachzuprüfen, was dahintersteckte. Ich jedenfalls fand mich im Dschungel der Bio-Symbole längst nicht mehr zurecht. Der Homepage zufolge hatte die Merivaara AG für ihre Lacke das EU-Ökosiegel beantragt.
Unter meinem Fenster rauschte der Verkehr, ein Streifenwagen schoss mit heulender Sirene aus der Garage. Hoffentlich nichts für unser Dezernat, dachte ich. Da klingelte das Telefon, der Rechtsmediziner teilte mir mit, dass Juha Merivaara nach dem Lungenbefund bereits tot gewesen war, als er ins Wasser fiel.
»Wurde der Sturz durch einen Herzinfarkt ausgelöst?«
»Diese Möglichkeit kann ich definitiv ausschließen, auch wenn sein Herz tatsächlich nicht gesund war. Wie ich gestern schon sagte, handelt es sich um einen Schädelbruch. Der Mann wurde mit einem unregelmäßig geformten Gegenstand erschlagen. An der Schläfe haben wir Rost gefunden, in der Wunde Glassplitter. Durch den Schlag wurde die Schädeldecke zertrümmert, die sonstigen äußeren Verletzungen sind Folgen des Sturzes. Der Mann ist aus rund fünf Meter Höhe ins Meer gestürzt, nicht wahr?«
Ich holte tief Luft, brachte aber kein Wort heraus. Obwohl ich auf das, was der Pathologe mir gerade gesagt hatte bereits gefasst gewesen war, verließ mich auf einmal der Mut. Zum ersten Mal trug ich als Dezernatsleiterin die Verantwortung für die
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