Der Wind über den Klippen
Stein. Womit, kann ich noch nicht sagen. In der Wunde habe ich außerdem ein paar Glassplitter entdeckt, die allerdings von seiner Brille stammen könnten. Hat man sie schon gefunden?«
»Nein. Wir müssen im Meer danach suchen. Kann es sich um einen Herzinfarkt mit anschließendem Sturz gehandelt haben?
Merivaara hatte im letzten Winter Herzbeschwerden.«
»Bei den inneren Organen bin ich noch nicht«, sagte der Pathologe irritiert. Aus dem Hörer drang ein schrilles Geräusch, bei dem man unwillkürlich an einen Schädelbohrer dachte, aber darum konnte es sich wohl nicht handeln. »Man hat mir gesagt, du möchtest so schnell wie möglich wissen, ob Fremdverschulden auszuschließen ist. Im Moment würde ich sagen, nein.
Genaueres folgt morgen, wenn ich alle Organe gesehen und die Wunde in Ruhe analysiert habe. Fotos vom Fundort wären mir übrigens eine große Hilfe.«
Als ich in den Vernehmungsraum zurückkehrte, blickte mir Koivu, der erraten hatte, wer der Anrufer war, neugierig entgegen. Ich zuckte mit den Schultern. Mikke Sjöberg schien in seinem Sessel zu dösen, er hatte den Kopf an die Wand gelehnt und die Augen geschlossen.
»Schluss für heute«, sagte ich, doch er reagierte nicht. War er etwa mitten in der Vernehmung eingeschlafen? Nein, er schlug die Augen auf, gähnte und streckte sich wie eine schläfrige Katze.
»War das alles?«, fragte er verwundert.
»Auf einiges müssen wir sicher noch einmal zurückkommen, aber für heute ist es genug. Deine Mutter wartet im Ruheraum auf dich.«
Als Mikke den Pullover überzog, merkte ich, dass er sich auffällig langsam bewegte. Brauchte auch er professionelle Hilfe? Manche Kollegen, allen voran natürlich Ström, lachten über meine Angewohnheit, Broschüren von Krisenzentren zu verteilen, aber meiner Erfahrung nach waren Gespräche mit einem Sachverständigen nützlich.
»Mikke, du hast einen Toten gefunden«, sagte ich und legte eine Hand auf seinen Arm. »Diese Last solltest du nicht allein mit dir herumtragen. Hol dir Hilfe.«
Die traurigen, graublauen Augen sahen mich lange an. Dann verzog sich der Mund zu einem Lächeln, das die Augen nicht erreichte.
»Ich bin doch in Mutters Obhut!«
Er drehte sich um und ließ sich von Koivu zum Ruheraum bringen. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und wünschte mir, ich hätte mehr Verstand.
Fünf
In der Lagebesprechung am Montagmorgen gingen wir die Ereignisse des Wochenendes und die sonstigen offenen Fälle durch. Ich hatte bereits eine ganze Weile über den Fall Juha Merivaara gesprochen, als mir auffiel, dass Ström fehlte. Das brachte mich für einen Moment aus dem Konzept.
»Es ist also noch nicht sicher, ob es sich um ein Tötungsdelikt handelt«, fasste der alerte, redegewandte Puupponen zusammen, als ich fünfzehn Sekunden lang schwieg.
»Die Technik und das Labor haben für heute Nachmittag weitere Ergebnisse versprochen. Hoffen wir, dass es sich als Unfall entpuppt, wir haben ohnehin genug zu tun«, seufzte ich und schlug als nächsten Punkt die Schlägerei vor, die sich am Freitagabend in Mankkaa zugetragen hatte. Tiefe Stille senkte sich über den Raum. Erst jetzt ging mir auf, dass Ström an diesem Fall arbeitete.
»Wo steckt Pertsa? Habt ihr was von ihm gehört?«, fragte ich und hoffte, nicht wie eine gestrenge Lehrerin zu klingen, die sich nach einem Schulschwänzer erkundigt. Ich ließ den Blick durch die Runde schweifen, bis ich den verlegen dreinblicken-den Lähde entdeckte. »Weißt du, wo Ström ist?«
Lähde zappelte mit den kurzen, dicken Beinen.
»Ich weiß es nicht genau, aber … Ströms ehemalige Frau hat am Wochenende geheiratet.«
Was hatte die Hochzeit seiner Exfrau mit Ströms Abwesenheit zu tun – hatte sie etwa die gemeinsamen Kinder bei ihm abgeladen, um ungestörte Flitterwochen zu verleben? Bevor ich nachfragen konnte, platzte Puupponen heraus:
»Hat Ström nicht bloß einen empfindlichen Magen, sondern auch ein zartes Herz?«
Er erntete nur gedämpftes Gelächter, denn das ganze Dezernat wusste, dass die vier Jahre zurückliegende Scheidung Ström immer noch schmerzte. Er hatte erst nach langem Sträuben zugestimmt, als seine Frau Marja nach dem Erziehungsurlaub wieder als Laborantin arbeiten wollte. Sechs Monate später hatte sie ihn verlassen, weil sie sich in einen Krankenhaustechniker verliebt hatte. Es war zu einer heftigen Auseinandersetzung um das Sorgerecht gekommen, bei der Pertsa schließlich nachgege-ben hatte, weil die unregelmäßigen
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