Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wind über den Klippen

Der Wind über den Klippen

Titel: Der Wind über den Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
Vom Netzwerk:
Whisky ließ es sich aushalten. Doch in diesem Herbst hatte ich den Lichtmangel plötzlich als fremd und sogar beängstigend empfunden. In einigen Wochen würde es noch dunkel sein, wenn ich morgens aufstand, in einem Monat würde ich werktags nur durch das schmale Bürofenster einen Streifen Tageslicht zu Gesicht bekommen …
    Ich schüttelte die düsteren Gedanken ab und wollte gerade nachsehen, ob einer der Geburtstagsgäste vorbestraft war, wurde aber durch ein Klopfen unterbrochen. An der Tür stand Koivu, ganz grün im Gesicht.
    »Aha, unser Leichtmatrose ist wieder an Land«, sagte ich fröhlich.
    »Hör bloß auf! Auf so eine Nussschale kriegen mich keine zehn Pferde mehr. Die halbe Zeit hab ich über der Reling gehangen und gekotzt.«
    »Nimm nächstes Mal eine Tablette. Wo sind Saarela und Sjöberg?«
    Koivu sah mich erschrocken an.
    »Sollte ich die Frau nicht nach Hause schicken?«
    »Doch, doch.«
    »Sjöberg ist unten. Muss ich bei der Vernehmung dabei sein?«
    »Ja«, sagte ich und stellte zum hundertsten Mal fest, wie gern ich mit Koivu zusammenarbeitete. Wir hatten viele Fälle gemeinsam bearbeitet, zuerst im Dezernat für Gewaltkriminali-tät der Kripo in Helsinki, dann in meiner Heimatstadt in Nordkarelien, wo ich eine Urlaubsvertretung übernommen hatte.
    Koivu war wegen einer Frau in diese Gegend gezogen, und als die Romanze zu Ende ging, konnte ich ihn nach Espoo locken.
    Er war für mich ein Kumpel und eine Art jüngerer Bruder, einer der wenigen Kollegen, denen ich nicht die Hartgesottene vorzuspielen brauchte.
    »Mein Magen ist restlos leer. Ob ich wohl was zu essen kriegen kann?«
    »Wir bestellen ein paar belegte Brote. Hat Sjöberg gegessen?«
    »Er hat auf dem Boot Steaks und Kartoffeln gebraten, während die Saarela am Ruder stand. Rate mal, wie schlecht mir von dem Geruch geworden ist …«
    »Und sonst, haben die beiden irgendwas Interessantes gesagt?«
    »Ich hab nicht viel mitgekriegt, mir war so übel«, gestand Koivu verlegen. »Die Frau hat gefragt, wie es mit den Ermittlungen weitergeht. Sjöberg war die meiste Zeit still. Bis zur Abfahrt war er sehr nervös, aber als wir auf dem Meer waren, hat er sich beruhigt.«
    Mikke Sjöberg wartete auf dem Flur im Untergeschoss, den Kopf an die Wand gelehnt. Als er unsere Schritte hörte, blickte er auf. Er wirkte erschöpft, die Prellung am Kinn leuchtete dunkelrot unter den blonden Bartstoppeln hervor.
    »Hallo. Wie ich höre, hat es unterwegs ein bisschen geschaukelt?«
    »Na klar, wenn man mit Motorkraft hart am Wind fährt, ist das nicht zu vermeiden. Um eine glatte Fahrt zu haben, hätten wir kreuzen müssen, aber dann wären wir immer noch auf See.«
    »Möchtest du Kaffee? Komm mit, wir gehen in die Zwei.«
    Mikke nahm Rucksack und Windjacke und folgte uns in den Vernehmungsraum. Er betrachtete stirnrunzelnd das Seestück an der Wand, zog dann den dicken grauen Pullover aus und setzte sich in den Sessel, den ich ihm anbot. Ich mochte den Vernehmungsraum zwei, weil er größer als die anderen und in warmen Farben möbliert war. In das kleine Kabuff mit der Nummer vier führte ich im Allgemeinen nur diejenigen, die ich unter Druck setzen wollte. Dort saßen sich der Befragte und der Verneh-mungsleiter an einem schmalen Tisch dicht gegenüber, und die Lampe ließ sich so drehen, dass sie den Befragten blendete.
    Dagegen vermittelte der Vernehmungsraum zwei mit seinen Sofas und Sesseln die Illusion, man führe ein ungezwungenes Gespräch unter Freunden.
    »Hoffentlich ist deine Planung nicht völlig aus den Fugen geraten«, sagte ich, nachdem ich die übliche Litanei auf Band gesprochen hatte.
    »Als Segler lernt man, flexibel zu sein. Wenn jemand gestorben ist, sind solche Dinge außerdem völlig banal«, erwiderte Mikke, als wolle er mich drängen, mit dem überflüssigen Geschwätz aufzuhören und zur Sache zu kommen. Also fragte ich ihn noch einmal, wie er die Leiche gefunden hatte. Er wiederholte die Aussage, die er auf der Insel gemacht hatte.
    »Natürlich hatte ich Reisefieber«, gestand er. »Wahrscheinlich bin ich deshalb so früh wach geworden. Ich dachte, wenn ich auf den Leuchtturm gehe, störe ich die anderen nicht. Außerdem wollte ich mir den Himmel ansehen, bei Morgenröte zieht nämlich meistens im Lauf des Tages Regen auf.«
    »Hast du draußen irgendwas Besonderes bemerkt, ich meine, bevor du die Leiche gesehen hast?«
    »Nein.«
    Seine Antwort kam ohne Zögern. Ich entnahm einem Briefumschlag einige Polaroidfotos

Weitere Kostenlose Bücher